Römer 3,23
Andachten
Es ist hier kein Unterschied; sie sind allzumal Sünder, und mangeln des Ruhms, den sie an Gott haben sollten.
„Kein Unterschied“, - das ist eine harte Rede, wer kann sie hören? Ist es denn recht und billig, so in Bausch und Bogen alle Menschen in eine Klasse zusammenzuwerfen? Und doch finden wir diese harte Rede allenthalben in dem Wort des heiligen Gottes. Es setzt keine Kasten und Rubriken unter den Menschen. „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch und kann nur durch eine neue Geburt fähig werden für Gottes Reich;“ spricht Jesus Christus. Dass Welt überall Welt sei, dass die ganze Welt im Argen liege, dass wir von Natur Alle Kinder des Zornes seien, ist eine gemeine Rede bei allen Aposteln. Drum sagt Paulus auch hier: „Es ist kein Unterschied“.
Scheinbar sind freilich die Unterschiede sehr groß. Wenn Jesu gegenüber die Hohenpriester und Schriftgelehrten, um ihres Herzens Zerrissenheit zu bekunden, ihre Kleider zerreißen, oder wenn die Hausknechte dieser geistlichen Herren Jesu ins Angesicht speien und ihn mit Fäusten schlagen, - da scheint doch ein großer Unterschied. Jene sind feierlich und fromm in ihren Formen, diese sind gemein und roh. Aber der Unterschied fließt nur aus der Verschiedenheit ihrer Bildung und ihres Standes. Der Grund des Herzens, der Widerwille gegen das Überweltliche, Göttliche, Innerliche ist bei den Einen und andern derselbe. Wenn Pilatus vor allem Volk seine feinen aristokratischen Hände wäscht, so ist das sehr effektvoll und ergreifend und eines so gebildeten Mannes würdig; wenn aber die Soldaten mit roher Faust Jesu eine Dornenkrone ins Haupt drücken, so scheint das viel gemeiner. Dennoch ist kein Unterschied: das Eine und Andere ist Welt, Natur, Fleisch. Wenn die „Töchter Jerusalems“ mitleidig und teilnahmsvoll hinter Jesu her weinen, die Männer dagegen unter dem Kreuz noch den Leidenden verspotten, so scheint da ein himmelweiter Unterschied zu sein. Und doch, die Weiber folgen ihrem sanfteren Zug, der mit dem tragischen Schicksal eines jungen Mannes Mitleiden hat, jene Spötter wollen sich dagegen den Stachel ihres Gewissens wegspotten. In beiden Fällen ist nur „Natur“, nichts was einen göttlichen, ewigen Wert hat.
Wenn ein Kannibale auf den Südsee-Inseln mit grinsenden Zügen Menschenfleisch verzehrt oder wenn ein Priester am Hochaltar rein geschäftlich, obgleich mit den feierlichsten Gebärden, vor der knieenden Menge die Monstranz hochhält oder meinetwegen auch, wenn ein evangelischer Prediger mit erschütternden Worten Buße predigt, sich selbst aber dabei vergisst, - das ist alles, trotz der kolossalen Unterschiede in der Form, derselbe Naturgeist. Der vornehme Herr, der, in kostbarer Kutsche einherfahrend, verächtlich auf den Proletarier niederschaut, und der Proletarier, der mit wütendem Hassesblick jenem Reichen nachschaut, - sie verraten mit ihrem Blick voll Verachtung und voll Wut nur denselben fleischlichen, weltlichen Sinn. Der Sozialist, der auf Weltzertrümmerung sinnt; der reiche Spekulant, der sich über die Sozialisten entsetzt, aber doch auch nur für seinen Beutel sorgt; der selbstzufriedene Fromme, der ehrsam Sonntag für Sonntag zur Kirche schreitet, nur weil das in seiner Familie immer Sitte war; der Sinnenknecht, der von früh bis spät nur darüber aus ist seinem Bauch zu dienen; der große Künstler, der sein ganzes Leben daran setzt, ein herrliches Kunstwerk zu schaffen sich zum bleibenden Ruhm, und von einem höheren Leben will er nichts wissen, sie Alle folgen nur dem Trieb des Fleisches, der Natur, der Welt. Vor Gott ist da kein Unterschied. Für den Staat, für den Bestand der menschlichen Gesellschaft auf Erden ist der Unterschied unermesslich groß. So lange aber der Mensch nur für sein natürliches ich, für seine Stellung in der diesseitigen Welt tätig ist, ist nach dem Urteil Gottes kein Unterschied in dem Grundwesen. Denn sie dienen alle den Weltelementen, welche dem Tod verfallen sind; sie haben Alle nichts in sich, was sie göttlicher Lebensherrlichkeit fähig macht; „sie ermangeln Alle des Ruhms, den sie an Gott haben sollten“.
Der Unterschied fängt erst da an, wo ein Mensch in sich schlägt und eben das einsieht, dass er, so wie er jetzt läuft, dem Eitlen nachläuft und ins Verderben läuft; der Unterschied fängt erst da an, wo er mit sich selber zerfällt und zu Gott schreit um ein neues Herz und einen neuen Geist; der Unterschied fängt erst da an, wo er sich über diese Welt hinaus nach einem Heiligen, Neuen sehnt, das nicht von dieser Welt ist. Das ist dann nicht mehr Welt, Natur, Fleisch, - das ist der Bruch mit diesem Allen, das ist das Auftun und Hinstrecken der Seele zu dem Gegenteil von diesem Allen.
Wie's aber für jenen „Kämmerer“, der Versöhnung suchte, auch mitten in der Wüste einen Gottesboten gab, der sie ihm verkündigte; - wie's für jene „Weisen“, die nach einem Erretter seufzen, auch einen Stern gab, der sie hinleitete, - so wird's auch noch für alle ewigkeitsdurstigen Herzen einen Führer geben, der sie nach Golgatha hinleitet, wo die Sünder dann verstehen lernen, was es heißt: „Ihr werdet ohne Verdienst gerecht aus Gnaden durch die Erlösung, welche durch Jesum Christum geschehen ist“.
Gleich wie sich fein
Ein Vögelein
In hohle Bäum' verstecket,
Wenn's trüb' hergeht,
Die Luft unstet
Menschen und Vieh erschrecket:
Also, Herr Christ,
Mein' Zuflucht ist
Die Höhle deiner Wunden.
Wenn Sünd und Tod
Mich bracht in Not,
Hab' ich mich drein gefunden. (Otto Funcke)
Denn es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder, und mangeln des Ruhms, den sie an Gott haben sollen; und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade, durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist.
Das ist das große Bekenntnis St. Pauli, und ist neben dem Bekenntnis St. Petri (Matth. 16, 16) der Felsengrund, darauf Christus Seine Gemeinde gegründet, dass auch die Pforten der Hölle sie nicht sollen überwältigen. Und zwar hängen die beiden Bekenntnisse so nahe und innig zusammen, dass das Eine das Andere in sich schließt. Ist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, um unsertwillen in die Welt gekommen, wo bleibt dann unser Verdienst? und sind wir allzumal ohne Unterschied vor Gott arme, verlorene Sünder, so müssen wir einen solchen Heiland haben, der von Anfang und von Ewigkeit ist, denn kein Anderer vermag es, uns der Verdammnis zu entreißen. Weil die Römischen mit ihren sogenannten Heiligen und all' ihrem Werkdienst von solchem Grunde abgewichen, so sind sie nicht bestanden in der Wahrheit und haben allem Lug und Trug Tor und Tür weit aufgetan. Und weil Luther die Kirche Jesu Christi wieder auf solchen uralten Ewigkeits-Grund zurückgebracht und festgestellt, so wissen wir, dass das Reich Gottes uns bleiben wird und muss. Gott sei Dank für solche unaussprechliche Gnade! Durch den Glauben allein, ohne Verdienst gerecht aus Seiner Gnade, das ist der Friedenshafen aller gejagten Seelen und unruhigen Gewissen! so ist's geschehen, dass auch der Schächer am Kreuze sanft und selig ins Paradies gegangen ist, und wer diese Schächer-Gnade in seinem letzten Stündlein findet, der hat genug! Sollen wir denn die Hände in den Schoß legen und Christi Verdienst zu einem Ruhekissen unserer fleischlichen Trägheit machen, wie es uns die Römischen vorwerfen! Das sei ferne! es geht nach der Weise, wie es im Liede heißt: Dass, Herr, bei Dir Vergebung sei, das macht in Deiner Furcht mich treu. Wer den heilsamen Kelch voll Gnaden aus Gottes Hand empfängt, der setzt sein Leben dran, Ihm solche Wohltat zu vergelten, bleibt aber dabei nach Jesu Wort immerdar ein unnützer Knecht. (Nikolaus Fries)