Johannes 18,12
Andachten
Die Schar aber und der Oberhauptmann und die Diener der Juden nahmen Jesum und banden ihn.
Wir sehen hier den allein Freien, den allein Sündlosen, den Erlöser, den Sohn des Königs aller Könige gefangen und gebunden vor uns stehen! Wozu das? Damit wir erkennen, wir er zuvor unser Sündenbüßer sein musste, ehe er unser Sündentilger werden konnte; wie er erst der Gerechtigkeit Gottes an unserer Statt genugtun musste, um uns die Gnade Gottes mitteilen zu können; wie er, der Unschuldige, zuerst unsere Sündenschuld bezahlen musste, ehe er uns schuldlos darstellen konnte vor Gottes Angesicht. Ja, wir sehen, wie der Gerechte in die Hände der Ungerechten fällt, damit wir Ungerechte nicht in die Hand des Allgerechten fallen mögen, und wir haben nichts anderes zu tun, als, nachdem wir in dem Gebundenen unseren Erlöser erkannt, ihm zuzurufen: „Herr Jesu, erlöse mich von den Banden der Sünde, du mein starker, treuer Gott und Herr! Ja, du wolltest dich binden lassen, damit ich nicht in meinen Banden bleiben müsse! Du Sündenfreier stehst gebunden mir, dem in Sünden gebundenen gegenüber, um mir zu zeigen, dass du meine Schuld auf dich genommen hast und mir deine Unschuld zuteilen willst; dass du mit mir wechseln, mir deine Gerechtigkeit schenken und mir meine Ungerechtigkeit abnehmen willst. Darum will ich alle stolzen und vergeblichen Versuche zur Selbsterlösung gänzlich aufgeben, zu dir, meinem Erlöser, will ich mit meiner völligen Gebundenheit und Schwäche kommen, dir allein will ich meine Freiheit, meine Rettung und Seligkeit verdanken! Erfülle an mir dein Wort: Wen der Sohn frei macht, der ist recht frei!“ Lass mich von nun an unauflöslich mit dir, meinem Erlöser, verbunden sein, und durch solche Verbindung mit dir meine christliche Freiheit bewahren. Ja, dir bin ich ewig verbunden, darum will ich an dir haften wie die Rebe am Weinstock! Die Rebe, die nicht an dir bleibt, ist zwar frei von dir, aber sie verdorrt, und man wirft sie ins Feuer. Nein, ich will in freier Liebe, meinen Willen mit deinem Herzen und Willen vereinigen. Keine Kreatur soll mich fesseln oder gar von deiner Liebe scheiden! Nur an dir will ich hangen, um den Stricken des Satans und dem unseligen Gewirre der Welt zu entgehen!“
Ach, es ist doch einerlei, ob uns der böse Feind an der schwersten Kette des Verbrechens oder am zartesten Faden des sündlichen Verlangens zur Hölle zieht. Wird unsere natürliche Richtung nicht geändert, unser Herz nicht umgewandelt, unser Leben nicht bekehrt, unsere Fessel nicht gelöst, dass wir uns frei und froh emporschwingen können zu Gott, dem Urquell alles Friedens und aller Seligkeit, so sind wir ewig, unwiderbringlich verloren! Ach, welch eine Gnade ist es doch, diese Verlorenheit zu erkennen und sich dem Herrn völlig ergeben, sich gänzlich von ihm abhängig gemacht zu haben! O selige Freiheit, von ihm gebunden zu sein und dadurch eben von allen anderen gröberen und feineren Banden erlöst zu werden! Wer solche Gnade nicht erlangt, wer sie nicht suchen mag, der weiß wahrlich nicht, dass er einen Erlöser hat und wozu er ihn hat! Er hat ihn nicht, weil er ihn nicht kennt; er kennt ihn nicht, weil er ihn nicht braucht. Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht. Und sollte der wohl ein Christ sein, der in Christo noch nicht seinen Erlöser gefunden hat, noch keine Erfahrungen von seiner erlösenden Gnadenkraft gemacht hat? Sollte der wohl ein Christ sein, der bei Betrachtung des gebundenen Erlösers nur mit ihm Mitleid hat, ohne mit sich selbst Mitleid zu haben und sich durch ihn von der Sünde erlösen zu lassen? Lasst uns doch beherzigen die auch uns geltenden Worte des Herrn: „Ihr Töchter von Jerusalem, weint nicht über mich, weint über euch selbst und über eure Kinder!“ O, dass wir zu solchen Bußtränen im Hinblicke auf den duldenden Erlöser in dieser heiligen Passionszeit uns angetrieben fühlten, wie segensreich würde sie uns sein! wie würden wir uns doch dem Herrn hingeben und von ihm gefangen und gebunden uns erlöst fühlen von Welt, Sünde, Tod und Teufel, indem wir fortan dem angehören, der die Sünde gesühnt, die Welt überwunden, die Werke des Teufels zerstört, den Tod getötet, das Gefängnis gefangen, die Hölle verriegelt und Leben und unvergängliches Wesen an das Licht gebracht hat! (A. Haken.)