Lukas 7,13
Andachten
“Weine nicht.“
„Weine nicht!“ sagt der HErr zu der Witwe, die hinter ihrem verstorbenen Sohne weinend einhergeht, und deren Tränen Sein Herz rühren, da Er eben dem Leichenzug begegnete. „Weine nicht!“ sagt Er zur Mutter, und den Jüngling weckt Er auf. Ach, so wird Er wohl auch einmal zu denen, die viel unter ihrer vergeblichen Arbeit an toten Herzen weinen, und den Erstorbenen mit Tränen nachgehen, sagen: „Weinet nicht!“ - und die Toten aufwecken. Wenn auch die, von welchen wir vorhin redeten, Jahre lang keine Frucht ihrer Arbeit sehen, und viel darüber weinen und seufzen, so kann doch auch eine Zeit kommen, da der HErr ihnen plötzlich Türen öffnet, und es dann heißt: „Weinet nicht! Die Toten sollen erwachen.“ Der HErr, unser Heiland, bleibt sich gleich; und was Er damals auch vorbildlich beim Sarge des Jünglings sprach und tat, das wird Er einmal überall in der ganzen Welt noch ausrichten. Denn dazu ist Er da, dass endlich alles, soweit es sich zu Ihm ziehen lässt, zu Ihm hingezogen werde. (Christoph Blumhardt)
Und da sie der Herr sah, jammerte ihn derselbigen.
Wir sehen hier zwei Züge einander begegnen. Auf der einen Seite der Sarg mit der Witwe und ihrem Gefolge, auf der andern Seite der Herr, der auch ein Gefolge mit sich führt. Man kann sagen, in dem einen Zug war der Tod, in dem andern das Leben. Aber das Letzte glaubte niemand. Wo der Herr hinsah, da sah er nur Schmerz, nur Trauer, nur Tränen; bei der Totenklage war auch nicht ein Wort des Glaubens und der Hoffnung; man hörte nirgends ein: Herr, hilf! Herr, erbarme dich unser! Der ganze Leichenzug wollte still und stumm an Jesu vorübergehen, als an einem Menschen, der nichts kann und vermag, dem Tod gegenüber. So muss sich Jesus oft behandeln lassen in Sterbefällen. Grade wenn er uns entgegenkommt und wo er am meisten geben könnte, denkt man am wenigsten an ihn; was kann aus Nazareth Gutes kommen? Das macht das Erbarmen des Herrn aber nur lebendiger. Anderswo heißt es: Seine Augen sehen nach dem Glauben. Der Glaube ist auch das Edelste und Beste, was in des Menschen Herz kommen kann. Der Glaube ist das Einzige, wodurch der Mensch Gott ehren und mit ihm in Lebensgemeinschaft treten kann. Wie oft fragte der Herr die Armen, die bei ihm Hilfe suchten: Glaubst du das? Wie ernst heißt es von Nazareth: Er tat daselbst kein Zeichen, ihres Unglaubens wegen. Das ist wahr, aber eben so wahr ist es auch, dass der Herr nicht an unsern Glauben gebunden ist. Die Offenbarung seiner Herrlichkeit kann eben so gut dem Glauben vorhergehen als ihm nachfolgen. Nicht in uns, sondern immer zunächst in ihm ist der Grund und die Quelle seiner Hilfe und seines Heils. Wäre es anders, so hätte er den Leichenzug, wo kein Vertrauen, keine Hoffnung, kein Glaube, wo nur der Tod war, so hätte er die weinende Witwe, die nicht einmal, wie später Martha, sprach: Herr, wärst du hier gewesen, mein Sohn wäre nicht gestorben er hätte sie alle vorüberziehen lassen, und zu seinen Jüngern gesprochen: Ziehen wir weiter; lasst die Toten ihre Toten begraben. Aber es heißt: Und da sie der Herr sah, jammerte ihn dieselbige. (Friedrich Lobstein)
Und sprach zu ihr: Weine nicht.
Nichts Leichteres und nichts Schwereres, als zu sagen: Weine nicht. Man hat bald die schönsten Trostesworte zur Hand, aber den rechten Trost erkennt man an den Wirkungen. Auch Tränen trocknen, heißt noch nicht trösten, die Tränenquelle muss stille stehen. Nichts Selteneres als ein rechter Tröster und ein recht Getrösteter. Wie tröstet man uns, wenn wir weinen? Der Eine sagt: Die Zeit heilt Alles; ein Anderer: Sei ein Mann; ein Dritter: Sieh auf das, was dir bleibt; ein Vierter: Zerstreue dich, reise in ein Bad. Wenn wir das der Witwe zu Nain gesagt hätten, was hätte es ihr geholfen? Man kann oft den Kummer auf Augenblicke bannen, aber die schlecht vernarbte Wunde blutet wieder, und der rechte Schmerz kommt oft nicht gleich nach dem Verlust, sondern erst nachher, wenn man wieder zu sich selber gekommen ist. Nur einen Tröster gibt es, der sagen kann: Weine nicht. In ihm fließt der Tröster und der Trost zusammen; und auch jene Witwe konnte das erfahren. Weine nicht, hat in Jesu Mund eine ganz andere Bedeutung als in unserm. Die ganze Erscheinung Jesu ist ein Weine nicht. Ein Blick auf ihn sagt uns: Ich bin für ihn da mit meinem Jammer, und er ist für mich da mit seiner Hilfe, mit seinem Heil. Schauen wir einmal ganz in Jesu Herz hinein, und der zerschlagensten Seele taucht eine neue Welt auf. Ihn jammerte jene Witwe; sein Weine nicht ist die Quelle, aus der sein ganzes Erlösungswerk, die ganze Heilsanstalt Gottes geflossen ist. Im Himmel hat ihn unser Zustand gejammert, schon im Schoß des Vaters hat er sich in unsere Not hineinversenkt, und darum ist er zu uns gekommen, hat sich selbst entäußert und aller Freuden beraubt, um sagen zu können: Wendet euch zu mir, aller Welt Ende, so werdet ihr selig. Das wäre nicht in jener Witwe Sinn gekommen, auch nicht in unsern. Die arme Frau hätte dem Unbekannten antworten können: Wärst du Mutter wie ich, du würdest meinen Tränenlauf nicht hemmen wollen. Die Tränen sind oft die einzige Erleichterung, die uns bleibt. Aber Jesus hat etwas Besseres. (Friedrich Lobstein)
Und da sie der HErr sahe, jammerte ihn derselbigen.
O wie wichtig ist es, dass dies in der Heiligen Schrift vom Menschensohn steht! Wie wohl tut es einem armen Sünder! So hat es ihn auch gejammert, als er das Volk Israel ansah, wie es so gar nicht bedachte, was zu seinem Frieden diente, als er weinte über Jerusalem. So hat es ihn auch gejammert, als Adam durch die Sünde sich selbst ins Elend gestoßen hatte; darum ward ihm die Verheißung von Demjenigen zu Teil, der der Schlange den Kopf zertreten solle. So hat es ihn gejammert des Volkes Israel, als es unter der Knechtschaft Ägyptens und unter den Schlägen seiner Dränger seufzte; darum sprach er zu Mose: „ihr Schreien ist vor meine Ohren gekommen, und ich will ihnen helfen.“ So hat es ihn gejammert, als er das Volk in der Wüste umherirren sah, denn er ließ ihm sagen: „ich habe dein Reisen zu Herzen genommen.“ So hat es ihn gejammert, wenn er den Abfall des Volkes von ihm, dem lebendigen Gott, jah; darum ließ er dem abtrünnigen Israel so viele tröstlichen Worte sagen, wie wir in den Propheten lesen (Feh. 40, 1.2. 41, 14. 44, 22. usw.). Und was könnte nicht noch angeführt werden? Es ist dies Alles aus diesem Jammer, aus diesem tiefen, unendlichen Abgrund seiner Barmherzigkeit, seines Mitleids hervorgegangen. Darum ist er Mensch geworden, und hat Knechtsgestalt angenommen, und ward an Gebärden als ein Mensch erfunden. Wer kann diesen Trieb der Barmherzigkeit fassen, wer kann erkennen die länge, die Breite, die Höhe und die Tiefe der Liebe Christi, die doch alle Erkenntnis weit übersteigt? So jammert es ihn noch auf die heutige Stunde unser Aller, wenn er sieht, wie seine Liebe so gar vergessen wird, wie wir unser eigenes Elend suchen, wie er so unbekannt ist. Es jammert ihn, wie es einen Hirten jammert, wenn seine Schafe sich verirrten; es jammert ihn, wie es eine Mutter jammert über dem Leiden ihres einzigen Sohnes. „Es jammerte ihn“ - o ein wichtiges Wort! Das ist aber das Wichtige daran, dass er ein so liebendes Herz hat, ein Herz, das keinem menschlichen Gefühl fremd ist. Also hat Gott die Welt geliebt, dass er ihr einen Hohepriester geschenkt hat, wie sie in ihrem Elend gerade einen nötig hatte; einen Hohepriester, der Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut ist, und sich nicht schämt, uns seine Brüder zu heißen; einen Hohepriester, der gefühlt hat wie wir, und gedacht hat wie wir, doch ohne Sünde; einen Hohepriester, der ein Mensch war wie wir, ein menschliches, gar niedrig gesinntes Herz hatte, doch ohne Sünde. Was würde es uns helfen, wenn Jesus nicht menschlich gefühlt hätte, wenn er zwar den leidenden geholfen, aber dies nur gleichsam nach seiner ewigen und notwendigen Willensbestimmung getan hätte? Ach wir hätten kein Zutrauen zu ihm; wir könnten kein Herz zu ihm fassen, ihm unsere Not nicht klagen, unser Elend ihm nicht offenbaren, unsere Sünde ihm nicht bekennen. Aber Gottlob! der Vater hat uns Jesum geschenkt, einen Hohepriester mit einem menschlich fühlenden Herzen, einen Hohepriester, den es jammert, wenn er unser Elend sieht. (Ludwig Hofacker)
Und da sie der Herr sah, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: Weine nicht.
Als der Tod zum Tore von Nain hinaus ging, da kam das Leben zum Tore herein. Tod und Leben begegneten sich. O siehe die zwei Züge. Der eine: eine Menge Volks, mitten darinnen zwölf Träger, und die Träger trugen den Toten. Und der andere Zug: ringsum eine Menge Volks, und mittendrin die Zwölfe, und in ihrer Mitte der Lebendige, ja, der das Leben hat in ihm selber. Und das Leben war stärker als der Tod. Christus wich dem Leichenzuge nicht aus. Ihm graut nicht vor der Bahre. Wie die Augen des Arztes allewege gerichtet sind auf die kranken Glieder, so ist sein Auge gerichtet auf die Leidtragenden. Wie den Kindern dieser Welt überall zuerst das schimmernde Gold in die Augen sticht, so fällt ihm zuerst das Elend seiner armen Brüder in die Augen. Das ist sein Gold, das ist seine Liebe. Die erste, die er sah, war die Mutter. Und da er sie sah, jammerte ihn derselbigen. Seine Liebe lässt ihn zuerst sagen, was zuerst nottut: „Weine nicht!“ Und was ist das für ein Wort? Christus ist kein leidiger Tröster, der einen reichen Anfang und ein armes Ende gibt. Wenn er spricht: „Weine nicht“, dann müssen die Tränen gründlich gestillt werden. Das Wort ist das erste goldene Gelenk von der Kette, an deren Ende das große goldene Siegel seiner Gnade hängt.
Barmherziger Heiland, du Tröster in aller Not, tritt auch zu uns, wenn Kummer und Not uns treffen; tröste uns, wo Menschentrost vergeblich ist. Erquicke alle trauernden Herzen und rufe allen Weinenden zu dein heiliges: Weine nicht! Uns aber gib den rechten. Glauben an dich, dass kein Leid und keine Freude, keine Arbeit und kein Genuss uns scheiden kann von der Liebe, die alle Erdensorge von den Deinen nehmen und alles Leid verwandeln will in ewige Freude. Amen. (Friedrich Ahlfeld)