Jesaja 6,2
Andachten
Serafim standen über ihm, ein jeglicher hatte sechs Flügel, mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, mit zweien flogen sie.
Drei Flügelpaare hielt Jesaja für nötig, damit die Himmlischen im Tempel Gottes stehen und anbeten könnten. Mit dem einen Flügelpaar deckten sie ihr Gesicht. Denn zur Beschauung für die Augen des Geschöpfes stellt sich Gott nicht aus. Die Augen müssen verhüllt werden, wenn er gegenwärtig ist. Das ist die heilige Regel, die ich auch in jeder stillen Stunde unverbrüchlich bewahren muss. Wenn ich meine Gedanken auf Gott richte, wie rasch wird daraus Sünde, eine gottlose Hoffart, die Gottes Werk betastet, seinen Willen prüft und ein Gutachten über seine Richtigkeit abgibt. Wenn wir unser Auge forschend auf die Natur und die Menschen richten, fährt gleich unser Machtwille in unseren Blick hinein. Wir dringen in die „Gegenstände“ ein, weil wir sie uns dadurch unterwerfen und dienstbar machen, dass wir sie begreifen. Gott ist nicht mein „Gegenstand“, an dem ich meine geistige Macht erproben dürfte. Darum bedarf ich wie die Serafim die Hülle vor meinen Augen gerade dann, wenn ich im Tempel Gottes stehe, dann, wenn ich meine Bibel öffne, dann, wenn ich Jesus auf seinen Wegen mit meinen Gedanken begleite, dann, wenn ich ihn am Kreuze sterben sehe. Jener Blick, mit dem ich die Natur und die Menschen mustere, entweiht Gottes Heiligtum. Das zweite Flügelpaar gibt Jesaja den Himmlischen dazu, damit sie ihre Füße bedecken. Sie müssen ihren Leib vor Gott verhüllen; entblößt hat er nicht Raum in Gottes Licht. Auch dieser Spruch des Propheten gilt uns allen. Nicht nur das, was sündlich ist, bedarf der Vergebung und würde uns von Gott scheiden, wäre er nicht der, der uns verzeiht, sondern auch das, was Natur und darum ein uns gegebener Teil unseres Wesens ist, den wir nicht von uns entfernen können, bedarf der Verhüllung, damit wir vor Gott stehen. Wir brauchen alle vor Gott nicht bloß die Reue, die das, was gottlos und ungerecht ist, beklagt, sondern auch die Scham, die nicht vergisst, dass unser natürliches Wesen uns mit dem Tier verbindet und nicht für Gottes Reich brauchbar ist. Das dritte Flügelpaar dient bei Jesaja den Himmlischen zum Flug. Es gibt keine Erkenntnis Gottes ohne die muntere Bereitschaft zu seinem Dienst. Wer im Heiligtum Gottes steht, muss beweglich sein. Wir müssen laufen können, wenn Er uns schickt, gehorchen können, wenn Er gebietet. Denn Gott macht sich mir dadurch gegenwärtig, dass Er mir seinen Willen zeigt.
Heilig bist du, unser Gott, und weil Du heilig bist, wohnst Du bei dem Loblied Deines Volks. Deine Heiligkeit gibt uns unseren Platz in der Tiefe und führt Deine Gnade aus Deiner Höhe in unsere Tiefe hinab. So richtest Du uns, die wir irdisch sind, auf zu Deiner Erkenntnis und Anbetung. Darum darf auch ich meine Tage beginnen und schließen mit Deinem Lob. Amen. (Adolf Schlatter)
Seraphim standen über Ihm; ein jeglicher hatte sechs Flügel; mit zween deckten sie ihr Antlitz, mit zween ihre Füße und mit zween flogen sie. Und einer rief zum andern: Heilig, heilig, heilig ist Jehova Zebaoth; alle Lande sind voll von seiner Herrlichkeit!
Wagt Jesaja auch nicht Gottes Bild zu malen, so sagt er uns doch etwas von der Thronwacht der Seraphim, die über Ihm schweben. Auch diese selbst schildert er nicht. Ihren Sinn und ihr Wesen aber bezeichnet er mit dem, was er erzählt. Mit je zwei Flügeln verdecken sie Antlitz und Füße, mit zweien fliegen sie. In erhabenen Chören aber rufen sie einander zu: „Heilig, heilig, heilig ist Gott!“ -
Diese majestätischen seraphischen Richtgeister also, wie herrlich sie auch sind, verhüllen sich doch Gott gegenüber in der tiefsten Demut. Gott gegenüber dünken sie sich doch nichts und suchen ganz vor Ihm zu verschwinden. Das ist das Eine. - Das Zweite ist, dass sie einander auffordern zum Preis göttlicher Heiligkeit. Nicht dass sie einer den andern verherrlichen, noch weniger jeder seine eigne Macht und Heiligkeit, - nein, Gott zu verherrlichen, darin verlieren sie sich ganz, und das scheint ihnen der höchste Beruf und die höchste Ehre des höchsten Geschöpfes.
Und endlich, wenn es heißt, „mit zwei Flügeln flogen sie“, - was ist damit anders gemeint, als dass sie ausgehen in alle Lande, um Gottes Willen zu vollbringen und allenthalben in der Kreatur sein Lob zu wecken?
Ach, und wir armseligen Menschen von Staub und Asche! Wie sollten wir dieser „seraphischen Theologie“ gegenüber in den Boden sinken! Wie viel tausendmal mehr Grund hätten wir, Füße und Angesicht Gott und Menschen gegenüber zu decken. Und doch wie ist unser falsches, arglistiges Herz darüber aus, seine Unheiligkeit wegzuleugnen und sich schön und rein zu machen. Wie gerne hören wir unser Lob und vergessen des Gottespreises. Wie gerne suchen wir Andere zu erwecken uns zu preisen und nicht Den, dem allein Ehre gebührt! O, lasst uns im Geist oft neben diese Seraphim stellen und recht klein und arm neben ihnen werden!
Aber lasst uns auch dieses beachten: Nicht die Herrlichkeit, nicht die Schönheit, nicht die Allmacht, nicht die Weisheit Gottes ist's, was diese himmlischen Geister in erster Linie besingen, sondern seine Heiligkeit. Die Heiligkeit das ist aber die Eigenschaft, wodurch Gott geschieden ist von allem Unreinen und Sündhaften, von dem ganzen Element der Finsternis, die Eigenschaft, derentwegen Er keine Gemeinschaft haben kann mit irgend einer sündhaften Kreatur. Diese Eigenschaft also wird von Denen, die Gott am nächsten stehen, als die höchste und grundlegende gepriesen. Der begreift also nichts von Gott, der von seiner Heiligkeit nichts wissen will. Das Wort: „Gott ist die Liebe“ ist eine Unwahrheit, wenn es nicht auf der Erkenntnis der Heiligkeit ruht. Der Gott, der so ein gutmütiger Vater ist, und der der Sünde gegenüber „ein Auge zudrückt“, ist nur in der Phantasie törichter Menschen vorhanden. Das Lob einer Gnade und Barmherzigkeit Gottes, darin die Heiligkeit nicht zu ihrem vollen Recht kommt, ist eine Lästerung Gottes. Wo wir Gott suchen, da müssen wir den Heiligen suchen; wo wir uns in Gott hinein retten wollen, können wir es nur, indem wir unsere Heiligung schaffen mit Furcht und Zittern und in allem Lobgesang Gottes, mit dem wir Ihn verherrlichen wollen, muss das „Heilig, heilig, heilig“ der Seraphim den Grundakkord bilden. Auch die Herrlichkeit Gottes ist nur seine enthüllte und ausgewickelte Heiligkeit. So weit nur ist ein Mensch zu Gottes Gemeinschaft tüchtig, so weit er Gottes Heiligkeit liebt und darnach sich sehnt. Wie ist dir bei diesem Gedanken zu Mute?
Majestätisch Wesen,
Möcht' ich dich recht preisen
Und im Geist dir Dienst erweisen!
Möcht' ich wie die Engel
Immer vor dir stehen
Und dich gegenwärtig sehen!
Lass mich dir
Für und für
Trachten zu gefallen,
Liebster Gott in Allem. (Otto Funcke)