Matthäus 26,59
Andachten
Die Hohenpriester aber und Ältesten und der ganze Rat suchten falsch Zeugnis wider Jesum, auf dass sie ihn töteten; und fanden keins. Und wie wohl viele falsche Zeugen herzutraten, fanden sie doch keins. Zuletzt traten herzu zwei falsche Zeugen und sprachen: Er hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in dreien Tagen denselben bauen. Und der Hohepriester stand auf und sprach zu ihm: Antwortest du nichts zu dem, das diese wider dich zeugen? Aber Jesus schwieg stille.
Jesus lässt die schmähliche Behandlung, die ungerechten, lügenhaften Beschuldigungen und alles Leid, das sie ihm verursachen, über sich ergehen, indem er sich gottgelassen dem Willen des Vaters unterwirft. Niemand sage, er sei bewährt, er habe es denn im Leiden, im versuchungsvollen Leiden bewiesen, er habe denn seine Liebe gegen Gott im Feuer der Anfechtung erprobt. Auch Jesus Christus musste, so geziemte es sich, nachdem er unseres Fleisches und Blutes teilhaftig worden war, durch Leiden vollkommen werden. Dies wusste er selbst und wollte es. Darum weigerte er sich nicht, auch diese Verachtung und Schmach von dem geistlichen Gerichte hinzunehmen. Er tut seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummet vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut“ (Jes. 53,7). Was seine Feinde über ihn bringen wollen, mögen sie über ihn bringen. Er will's geduldig tragen und aushalten. So entäußert er sich selbst alles Eigenen, und das Schweigen ist der Ausdruck dieser Entäußerung. Er tut seinen Mund nicht auf; er spricht kein Wort; denn er ist ganz in der Arbeit der Selbstentsagung begriffen; er ist aus allen Kräften tätig für die Vollendung seiner selbst im Gehorsam gegen Gott und für das Werk unserer Erlösung, voll der heiligen Gewissheit, was er an sich tut, zugleich als unser Bürge für uns zu tun. Während seine Widersacher an ihm, dem Reinen und Gerechten, Ärgernis nehmen und sich dadurch das Gefühl der Berechtigung zu geben suchen, ihm auf das schnödeste und ungerechteste begegnen zu dürfen, muss ihm auch dieses ein Mittel sein, das Bild Gottes, das sie in sich so jämmerlich entstellt und befleckt haben, in seiner Herrlichkeit aus sich hervorstrahlen zu lassen und ihnen und der ganzen Welt die Frucht von der Arbeit seiner erlösenden Liebe zu zeigen.
Das ist das Schweigen des Herrn. Es nimmt unsere ganze Teilnahme und Anbetung in Anspruch; denn es ist ein höchst bedeutsames Schweigen, wie kein anderes ist, und der Herr tut und richtet damit uns, was sonst nie damit getan und ausgerichtet ist. Es ist ein eigentümliches, überaus herrliches Zeugnis seiner freien, in ungetrübter Geistesklarheit und beständigem Gehorsam den Willen Gottes erfüllenden Liebe. In dieser Liebe sieht er nicht auf das Seine, sondern auf das, was des Anderen ist. Die Anderen aber sind nicht bloß die Feinde, die ihm hier gerade gegenüberstehen, sondern die ganze abfällig gewordene, gottentfremdete Welt. Für sie und für ihr Heil und für ihre Versöhnung wirkt und arbeitet er in seinem Schweigen.
So wollen wir denn auch dieses Beispiel seiner unerschütterlich sanftmütigen, gottergebenen, hochherzigen Liebe zur Stärkung unsers Glaubens gereichen lassen, des Glaubens, dass wir in Jesu den vollkommenen Mann haben, der von keiner Sünde wusste, der das Gesetz für uns erfüllt hat, der uns von Gott zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung gemacht ist. Und indem wir in solchem Glauben uns fester und inniger an ihn anschließen, wollen wir uns auch von ihm die Kunst des Schweigens, des Meister er ist, die Kunst der stillen Sanftmütigkeit und Gottgelassenheit erbitten. Auf diese Kunst verstehen wir uns, wie wir von Natur sind, am wenigsten, was wir dann vornehmlich erfahren, wenn uns ungerechte Schmach und Kränkung in falschen Zeugnissen trifft. Denn wie bald sind wir da nicht übermannt von Ungeduld und Zorn, wie bald schwillt da nicht Herz und Mund über von herabsetzenden Urteilen und harten Worten. So wollen wir uns denn in der Schule des Herrn von diesem Schaden heilen lassen. Er kann und wird uns die rechte Herrschaft geben über das kleine Glied, die Zunge, das so viel Unheil anrichtet. Denn er wird uns Herz und Seele in die Geduld und Sanftmütigkeit seines stillen Geistes fassen lehren und die ewige Kraft seiner Liebe in uns wohnen und wirken lassen, dass wir ihm in Schwachheit nachtun können, was er uns in Herrlichkeit vorgetan hat. (A. Rüdiger.)