Matthäus 18,32
Andachten
Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du dich denn nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? Und sein Herr ward zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis dass er bezahlte alles, was er ihm schuldig war. - Also wird euch mein himmlischer Vater auch tun, so ihr nicht vergebt von euren Herzen, ein jeglicher seinem Bruder seine Fehler.
Was hat das hohe Wohlwollen des Herrn gegen den Knecht so schnell in Zorn umgewandelt? Das Evangelium erzählt uns, dass der Knecht, statt seinem Mitknechte die gleiche Milde zu beweisen, die ihm selbst, ja ihm in weit höherem Maße widerfahren war, vielmehr von diesem mit barschen Worten sein Geld verlangt, und da er um Geduld bat, sich leiblich an ihm vergriffen und ihn in den Schuldturm geworfen habe. Und die Deutung, die der Herr dem Gleichnis beifügt, gibt uns zu bedenken, dass wer nicht des Mitbruders sich erbarmt, der auch vor Gott kein Erbarmen finde, dass die Gottesgnade, die schon ihre rettende und segnende Hand über ihn ausgestreckt hatte, sich wieder zurückziehe, das Siegel der Erlösung wieder gebrochen werde.
Aber warum kann denn der Herr dies neue Versehen nicht ebenso gut verzeihen wie die früheren? Wenn sein Erbarmen so unendlich groß ist, warum kann er nicht auch diese Aufwallung des alten Menschen zur alten Schuld hinzurechnen und mit dieser vergeben und vergessen? Das sehen wir klar, er macht einen großen Unterschied zwischen jener und dieser. Zuerst kniete der Schuldner vor ihm als ein armer, unglücklicher Mensch, der den guten Willen hatte, alles zu bezahlen, der aber dieses niemals vermag. Jetzt aber kommt nicht ein guter, sondern ein recht böser Wille zu Tage, nicht ein Nichtkönnen, sondern ein Nichtwollen. Jetzt, da er frei geworden ist, wird er stolz; da er keine Schulden mehr hat, will er schnell reich werden. Daran erkennt der Herr, dass von dem Liebessinn, der seines Reiches Wappen ist, dieser Mensch nichts weiß; wenn nicht einmal solche Wohltat das Herz auftut, dass er wie Paulus (Phil. 4, 5) in der Freude auch seine Lindigkeit kund werden lässt allen Menschen, der ist auch der göttlichen Liebe unwert, er ist unfähig, sie in sich zu tragen. Die Liebe will im Reiche Gottes freie Bahn, freien Durchzug haben; von Gott strömt sie aus, von dem Menschen, der sie empfangen hat, will sie wieder ausströmen auf andere Menschen; will einer sie allein für sich behalten, so vernichtet er sie damit auch in sich selber. Das lasst euch doch gesagt sein, ihr, die ihr eurem Nächsten jede Versäumnis, jede Unaufmerksamkeit auf eure Wünsche so hoch anrechnet; denket doch daran: mit welcherlei Maß ihr messt, wird euch gemessen werden! O, wer immer nur das im Sinne hat, was die andern ihm schuldig seien, welche Ansprüche er an sie zu machen das Recht habe, der ist übel daran, zum Frieden kommt er niemals, weil er sich immer beleidigt und zurückgesetzt glaubt; das Übelste aber ist, dass er darüber ganz vergisst, welcher Gnade er selber von Gott bedürftig ist, und wieviel Langmut Gottes er schon genieße, aber eben auch, wie unwert er sich derselben hierdurch mache. (Palmer)