Matthäus 11,5
Andachten
„Die Toten stehen auf!“
Der Augenblick der Hilfe ist gekommen. Der Erlöser steht vor dem Grabe, den Blick gen Himmel gerichtet, Martha und Maria sehen in tiefer Bewegung zu ihm auf, während die Umstehenden über den abgehobenen Stein sich beugen, um sich zu überzeugen, ob der Tote noch dort sei. Da spricht Jesus: „Lazarus, komm heraus!“ - Der Tote hört, sein Herz beginnt zu schlagen, er bewegt sich Lazarus lebt! Er erhebt sich; noch ist er mit Grabtüchern gebunden. Sie werden gelöst, und er wandelt wieder im Lichte des Lebens.
Mit keuschem Schweigen verhüllt die Schrift die Bewegung der Umstehenden. Auch wir stehen stille und staunen. Selige Stunde! In den Herzen der Schwestern ertönt es: Dieser unser Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden. Wunderbare Macht! Der Tod wird besiegt, das Tal des Todes wird zur Tür der Hoffnung! Dieselbe Stimme, die hier den Lazarus hervorrief, wird auch in unsere Gräber dringen. „Es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden,“ dieselbe Stimme, welche uns zuletzt beim Sterben tröstete und uns im dunkeln Todestale geleitete. Es ist wahr: die Stunde des Todes ist für einen Christen schon der Geburtstag ins ewige Leben, aber in den vollen Genuss der Freude und Seligkeit kommen wir erst, wenn das Verwesliche wird anziehen die Unverweslichkeit, das Sterbliche die Unsterblichkeit. Die Seelen der Gläubigen treten mit dem Tode das unverwelkliche Erbe der Heiligen im Lichte an, aber erst mit der Auferstehung werden sie wie die Sonne im Reiche der Herrlichkeit leuchten. Wie herrlich schon die Befreiung der Seele von den Banden des Fleisches, so ist es doch noch nicht die volle Herrlichkeit, wenn jeder in das Bild des Herrn verklärt ist, und der Jubelgesang wiederhallt auf vielstimmige Weise: „Tod, wo ist dein Stachel, o Hölle, wo ist dein Sieg?“ Dann werden wir den König in seiner Herrlichkeit sehen. Der erste Blick der Vollendeten wird Jesus sein, der sie dann mit der Krone des Lebens schmücken wird. Von seinen Lippen werden sie das Wort vernehmen: „Gehe ein zu deines Herrn Freude!“
Aber diese Glückseligkeit wird an jenem Tage noch erhöht werden durch das Wiedersehen unserer Lieben. Obgleich es genügt und mehr als genügt, dass wir unsern Erlöser sehen und bei ihm sein werden allezeit, so wird unsere Freude doch vermehrt durch das Willkommen unserer Lieben. Die beiden Schwestern des Lazarus begrüßten den Wiedererweckten gewiss mit herzlicher Freude. Wir können uns denken, wie sie Hand in Hand den Heimweg angetreten, da der Sonnenschein ihres Lebens nun in ihr Heim wiederkehrte.
Doch was ist das mehr, als ein schwacher Abglanz der Glückseligkeit, die droben unser wartet. Lazarus wurde wieder in dies arme Erdenleben zurückgerufen, um aufs neue ihre Bürden und Leiden zu tragen, und dann wieder zu sterben. Das Wiedersehen droben in der Herrlichkeit, wo kein Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen mehr sein wird, wo der Herr alle Tränen abwischen wird von den Augen der Seinen, wird durch keinen Trennungsschmerz mehr getrübt. „Wir werden bei dem Herrn sein allezeit.“ (John Ross MacDuff)