Johannes 19,16
Andachten
Da überantwortete er ihn, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen aber Jesum, und führten ihn hin. Und er trug sein Kreuz, und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, welche heißt auf Ebräisch Golgatha.
Das Todesurteil, das soeben erst gefällt ist, wird, ganz gegen die gewöhnliche Sitte, sogleich ausgeführt. Es ist als wenn der Teufel hier Alles hetzte und bange wäre, seine Beute möge ihm entgehen. Wir sehen einen stattlichen Zug römischer Soldaten, dahinter eine lawinenartig sich hinwälzende Volksmenge von Gabbatha nach Golgatha ziehen. Mitten zwischen den Kriegern schreiten drei Männer, alle mit dem Fluchholz beladen, dazu sie verdammt sind. Der Eine, dessen Haupt mit einer Dornenkrone umwunden ist, sieht so todesmatt aus. Er ist's, den unser Auge sucht. Mühsam schleppt er die Balken, bis er endlich darunter zusammenbricht. Und ob er der Liebenswerteste aller Menschenkinder ist, dennoch wird kein einziger Mensch gefunden, der Mitleiden mit ihm hätte und freiwillig seine Last erleichterte.
Mit großartiger, tiefsinniger Einfalt schreibt Johannes von dem ganzen Schmerzensgang nach Golgatha, davon doch so viele Einzelheiten zu berichten waren, nur diese fünf Silben: „und Er trug sein Kreuz“. Nichts weiter sagt der Jünger der Liebe; es lautet schier, als wäre es selbstverständlich, dass es so erging, ja als wäre das Kreuz Jesu ein verdientes Kreuz, sein Kreuz. Wir aber sollen darüber nachsinnen, denn die tiefsten Geheimnisse der göttlichen Liebe sind enthüllt in diesen 9 Buchstaben: „Sein Kreuz“. Dass der Heilige und Gerechte überhaupt ein Kreuz trug, um des Kreuzes Tod zu erdulden, das ist schon wunderbar genug. O wir, die wir jetzt das Kreuz im Glanz himmlischer Verklärung schauen, wir, die wir es in Marmor und Alabaster, ja in Gold und Edelstein ausarbeiten und in einen Schmuck wandeln, - wir vergessen so leicht, dass es auf der ganzen Erde nichts gab, was den Menschen so ehrlos machte, was ihn sogar zu einem widerlichen Auswurf der Menschheit machte, wie das Kreuz. Der Heilige trug ein Kreuz; das ist schon widersinnig genug.
Aber es heißt nicht nur: Jesus trug ein Kreuz, sondern: Er trug sein Kreuz. O, dieser eine Buchstabe „s“ vor dem „ein“ spricht die ganze „göttliche Torheit“ des Erlösungswerkes aus. Dass wir Sünder, wenn wir auch in tiefster Leidensnacht und Schmach einhergehen, dass wir dann unser (wohlverdientes) Kreuz tragen, - das ist uns nicht verborgen, wenn wir nur aufrichtig genug unser Leben im Spiegel der Wahrheit erforschen. Aber Jesus! was hatte er denn mit Fluch und Tod zu tun? „Sein Kreuz“ - Er, der aufgerichteten Hauptes fragen konnte: „Welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen?“ und nun doch: „Sein Kreuz“; als wäre es so ganz in der Ordnung. O Liebe, die den Himmel hat zerrissen und sich zu mir ins Elend niederließ, - wir verstehen dich. Du bist um unserer Missetat willen verwundet und unser Kreuz hast du geschleppt, du heiliger Christus, auf dass wir frei würden durch deine Last und heil durch deine Wunden. Ja, vor dieser „Torheit Gottes“ muss alle Weisheit der Welt ihre Flügel senken; vor diesem brausenden Meer göttlicher Erbarmung muss Alles, was auf Erden Liebe heißt, seinen Namen verlieren; vor solcher göttlichen Gerechtigkeit müssen alle Begriffe von menschlicher Gerechtigkeit erneuert werden. - Dass Christus das Fluchholz auf seine Schultern nimmt und nennt es „sein Kreuz“, als ob das selbstverständlich wäre, wahrlich, das ist die Tat der Erlösung. Fortan, o Mensch, wird nur noch eine Sünde dich scheiden können von Gott, nämlich die, dass du nicht glauben willst an Den, der die Gottlosen gerecht macht, dass du nicht ein Schüler des Mannes werden willst, der hier dein Kreuz trägt als sein Kreuz.
Wer aber das verstanden hat, den wird es nicht nur zum Anstaunen und Bewundern, zu flüchtiger Rührung und zu milden Tränen wecken, nein, den treibt's auch mächtig, hinter Jesu her das Kreuz zu tragen. Denn die Jünger Jesu werden daran erkannt, dass sie täglich und stündlich das Kreuz der Selbstverleugnung auf sich nehmen und kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden. Es ist für sie nicht ein Dogma, dass der Christ der Sünde entsagen müsse; es ist nicht Furcht vor der Hölle, es ist auch nicht die heilige Pflicht der Dankbarkeit, was sie in die innere Kreuzigung, in die Abtötung der Sünde führt, nein, es ist ihnen, die in Christo sind, zur anderen Natur geworden, die Sünde in den Tod zu geben, und aus Christo, der ihr Leben ist, fließt ihnen nicht nur der Antrieb sondern auch die Kraft zum Überwinden.
Jener Negersklave, der Jesum erkannt hatte, konnte es nicht unterlassen, auch seinen Gesellen und Mitarbeitern von dem Heiland der Sünder zu sagen. Sein Herr verbot ihm das, und als das Verbot nichts fruchtete, ließ er ihn auspeitschen bis aufs Blut. Das geschah zu öfteren Malen. Der Sklave ertrug Alles mit wunderbarer Geduld, Sanftmut und Freudigkeit. Entsetzt und erstaunt darüber fragte ihn sein Herr: „Neb, jetzt sage mir ehrlich, woher kommt dir die Kraft, so freundlich und fröhlich zu bleiben in diesen Schmerzen?“ Da antwortete der arme reiche Sklave: „Ich sehe Jesum an, wie Er sein Kreuz trug; da wird mir Alles leicht und lieblich“. - Wir aber wollen zu der Geschichte nichts hinzufügen - als dass wir uns schämen und lernen.
Nun, so bleib es fest dabei:
Jesus soll es sein und bleiben,
Dem ich lebe, des ich sei;
Nichts soll mich von Jesu treiben.
Du wirst, Jesu, mich nicht lassen;
Ewig will ich dich umfassen. (Otto Funcke)
“Sie nahmen aber Jesum und führten Ihn hin.“
Die ganze Nacht hatte Er Ängste und Schmerzen ausgestanden, den frühen Morgen hatte Er im Palast des Kaiphas zugebracht, man hatte Ihn von Kaiphas zu Pilatus geschleppt, von Pilatus zu Herodes, und von Herodes wieder zurück vor Pilatus; nun waren seine wenigen Kräfte fast erschöpft, und doch wurde Ihm weder Ruhe noch Erholung gegönnt. Sie lechzten nach seinem Blut, und darum führten sie Ihn hinaus zum Tode, und luden Ihm das Kreuz noch auf. O Schmerzensweg! Wohl mögen Salems Töchter weinen. Meine Seele, weine auch du.
Was lernen wir hier, wenn wir unsern teuren Heiland so hinwegführen sehen? Erkennen wir darin nicht jene Wahrheit, die uns im Bilde des „ledigen Bockes“ abgeschattet wird? Brachte nicht der Hohepriester den ledigen Bock und legte die Hände auf sein Haupt, und bekannte die Sünden des Volkes, auf dass so die Sünden möchten auf den Bock gelegt und vom Volke hinweggenommen werden? Dann wurde der Bock durch einen bestellten Mann in die Wüste geführt, und Er trug hinweg die Sünden des Volkes, so dass sie nicht mehr konnten gefunden werden, wenn man sie suchte. So sehen wir den Herrn Jesum vor die Priester und Ältesten geführt werden, und sie sprachen das Schuldig über Ihn aus; Gott selbst rechnet Ihm unsre Sünden zu: „Der Herr warf unser aller Sünde auf Ihn;“ „Er ist für uns zur Sünde gemacht,“ Er vertritt uns in unsrer Schuld, Er trägt unsre Sünde unter der Gestalt des Kreuzes auf seinen Schultern; wir sehen den großen „Bock der Erledigung“ hinweggeführt durch die bestellten Diener der Gerechtigkeit. Geliebte, habt ihr die gewisse Zuversicht, dass Er eure Sünde getragen hat? Wenn ihr das Kreuz auf seinen Schultern erblickt, erkennt ihr darin eure Sünde? Es gibt einen Weg, wie ihr gewiss werden könnt, ob Er eure Sünde getragen hat oder nicht. Habt ihr Ihm die Hand aufs Haupt gelegt und Ihm eure Sünde bekannt und auf Ihn vertraut? Dann lastet eure Sünde nicht auf euch; sie ist ganz und gar durch die köstliche Zurechnung auf Christum übertragen, und Er trägt sie auf seinen Schultern. Lasst dies Bild nicht in eurer Seele erblassen, bis dass ihr euch eurer Erlösung freut, und betet den liebenden Erlöser an, der eure Missetat getragen hat. (Charles Haddon Spurgeon)
Da überantwortete er ihn, dass er gekreuzigt würde, Sie nahmen aber Jesum, und führten ihn hin.
Dieser Endentschluss Pilati gibt dem ganzen Erlösungswerk Christi seinen Ausschlag. Was ein einziger Mensch oft ausrichtet durch ein einfaches Wollen des Guten wie des Bösen! Der Entschluss ist vor Gott schon die Tat mit allen ihren Folgen. Wer eingewilligt hat, und im Augenblick der Einwilligung sterben sollte, trägt Saat und Ernte mit sich in die Ewigkeit. Der Entschluss Pilati war, von seiner Seite, ein Sündenentschluss, und dahin bringt uns immer das lange im Herzen herumirrende Böse. Jedes böse Element ist etwas, das zu einer Vollendung reift. Zuerst klopft das Gewissen, dann kommen Kämpfe aller Art, Gott mahnt, der Teufel lockt, tausend pro und contra folgen aufeinander in dem kleinen armen Herzen, bis nach langem Zaudern endlich die Tat selber im Willensgrunde geboren wird. So wie Pilatus lang und immer länger gezaudert hat, so hätte der Vater im Himmel auch Jahrtausende zaudern können. Gott ist auch Vater, nicht nur Gott, und die Liebe zu seinem Eingebornen ist eine Liebe, der keine Vaterliebe auf Erden gleich kommt. Sollte oder sollte nicht dieser Sohn der Liebe einem Haufen von Empörern geopfert werden? So hätte das Gottes- und Vaterherz sich fragen können. Nur in dem Sohn findet der Vater sich wieder und hat einen Gegenstand, welcher des Vaters im Himmel würdig ist. Und nun auf der einen Seite diese Liebe, in der die ganze Glückseligkeit Gottes besteht, und auf der andern jene Vermaledeiung und jene grässlichen Qualen, denen der Sohn der Liebe, als Mittler der Welt, musste preisgegeben werden - hier konnte auch der lebendige, allmächtige Gott zaudern, denn auch Er hat Eingeweide des Erbarmens, ja Er besonders. Und doch Pilatus gibt diesem Kampf des himmlischen Kämpfers, als menschliches Werkzeug, die Entscheidung. Er überantwortete ihn, dass er gekreuzigt würde. Dieses Wort hat für die Erde und für den Himmel seine Bedeutung. Hienieden ist mit diesem Entschluss das furchtbarste Verbrechen geboren worden, aber im Himmel hat die Liebe gesiegt, die Liebe, die Alles dran gab, auch den Sohn der Liebe, damit wir den Sieg erhielten, und am Kreuz, das nun aufgerichtet werden sollte, eine ewige Erlösung fänden. (Friedrich Lobstein)