Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Einleitung.
Über die Aufgabe der Propheten lässt sich gar vieles sagen: die richtigste Auffassung aber dürfte diejenige sein, welche die Propheten aus dem Gesetz versteht. Denn das Gesetz ist die Quelle, aus der sie ihre Lehre schöpfen, es ist die Norm, die sie beständig vor Augen haben; mit Recht kann man sie als Ausleger des Gesetzes bezeichnen, denn sie bieten nichts, was nicht mit dem Gesetz in Zusammenhang stünde.
Der Hauptinhalt des Gesetzes aber ist ein dreifacher. Es enthält erstens sittliche Vorschriften, zweitens Drohungen und Verheißungen, drittens den göttlichen Gnadenbund, der auf Christus gegründet ist und auch alle besonderen Verheißungen in sich befasst. Die vielen Zeremonialgebote nämlich waren nur Übungsmittel, durch die das Volk in der Verehrung Gottes und in der Frömmigkeit erhalten werden sollte: man könnte sie als Anhänge zur ersten Tafel bezeichnen. So führen denn die Propheten die sittlichen Vorschriften weiter aus und erklären ausführlich, was die beiden Tafeln kurz zusammenfassen; sie zeigen zugleich, was in Gottes Augen das Wichtigste ist. Die Verheißungen und Drohungen sodann, welche Mose im Allgemeinen ausgesprochen hatte, wenden sie auf ihre Zeit an und bestimmen sie genauer. Endlich, was bei Mose von Christo und seiner Gnade dunkel angedeutet, das stellen sie in größerer Klarheit an das Licht und bringen zahlreichere und stärkere Zeugnisse für den Bund der frei geschenkten Gnade bei.
Es dürfte sich empfehlen, zur Veranschaulichung des Gesagten etwas weiter auszuholen, und zwar müssen wir auf das Gesetz selbst zurückgehen, das nach Gottes Willen seiner Gemeinde für alle Zeiten zur bleibenden Richtschnur bestimmt war. Gott sah, dass das von Mose gegebene Gebot dem unerzogenen und widerspenstigen Sinn des Volkes schwerlich genügen werde; er sah, dass, um dieses Volk zu lenken, der Zügel straffer angezogen werden müsse. Da er nun gleichzeitig die Befragung von Zauberern, Sterndeutern, Wahrsagern usw. streng verbot, so musste er auch hinzufügen: ich will dafür sorgen, dass es niemals an einem Propheten fehle in Israel. Andernfalls hätte ihm das Volk entgegenhalten können, dass es schlimmer daran sei als die heidnischen Völker. Denn diese könnte wenigstens ihre Priester und Seher, ihre Vogelschauer, Wahrsager, Sterndeuter und Chaldäer usw. befragen, während Israel niemand habe, den man in zweifelhaften und schwierigen Fällen um Rat angehen könne. Um diesen Vorwand dem Volke zu rauben und jede Befleckung mit heidnischen Zaubereigebräuchen zu verhüten, verspricht Gott, er werde Israel Propheten erwecken und durch sie seinen Willen kundtun. Allerdings spricht jene Verheißung (5. Mos. 18, 15. 18) nur von einem Propheten und bezieht sich zunächst und vor allem auf Christus, wie Petrus (Apg. 3, 22. 23) deutlich bezeugt. Denn Jesus ist ja auch wirklich das Haupt der Propheten, von dem sie alle abhängig sind und auf den sie alle einmütig hinzielen; trotzdem aber muss jenes Wort des Mose auch auf die übrigen Propheten bezogen werden, welche hier nur in zusammenfassender Weise bezeichnet sind.
Wenn somit Gott Propheten verhieß, um seinen Willen und Ratschluss durch sie zu offenbaren, so wollte er auch, dass das Volk sich an ihrem Wort und Weisung genügen lasse. Dabei hatten die Propheten jedoch keineswegs die Aufgabe, zum Gesetz Neues hinzuzufügen, vielmehr sollten sie es nur sorgfältig erklären und seine Autorität befestigen. Daher spricht Maleachi (3, 22), wo er zum Beharren im Glauben und zur Beständigkeit in der rechten Lehre ermahnt: „Gedenket des Gesetzes Moses, meines Knechts, das ich ihm befohlen habe auf dem Berge Horeb an das ganze Israel.“ Er weist also seine Zeitgenossen hin auf das eine Gesetz Gottes und heißt sie damit sich zu begnügen. Will er also, dass man das Wort der Propheten verachte? Keineswegs; allein, da dasselbe nur einen Nachtrag zum Gesetz darstellt, und das Gesetz alles schon in sich enthält, so genügte jene Ermahnung. Wer das Gesetz hält, wem es ernstlich darum zu tun ist, seine Gebote, die das Wichtigste und die Hauptsache sind, zu erfüllen, der wird die Worte der Propheten nicht vernachlässigen. Es würde doch einen lächerlichen Eindruck machen, wenn man einesteils sich mit dem Gesetze beschäftigen, zugleich aber die Erklärung desselben, welche die Propheten bieten, beiseite lassen wollte. Freilich heutzutage geschieht dergleichen nicht selten. Man hebt das Wort Gottes hervor, die Ermahnungen aber und den Tadel, welche die Prediger des Wortes daraus entnehmen, weist man von sich.
So bringen denn die Propheten in der Tat nichts Neues, wo immer sie von sittlichen Geboten handeln. Vielmehr stellen sie nur zurecht, was das Volk im Gesetze missverstand. So glaubten die Israeliten z. B. ihrer Pflicht vollständig genügt zu haben, wenn sie nur Opfer darbrachten und Gebräuche pflegten, die auch bei den Heiden üblich waren, - die Welt misst nun einmal Gott nach dem Maßstab ihres Verständnisses und glaubt ihn in fleischlicher Weise verehren zu müssen. Die Propheten verwerfen all dies aufs schärfste. Sie zeigen, dass alle diese Opfer und Gebräuche nichts nützen, wo es an der rechten Gesinnung des Herzens fehlt. Gott dient man durch Glauben und aufrichtige Anrufung. Das war zwar bereits im Gesetz deutlich genug gesagt; allein es war nötig, es immer noch besser einzuprägen und immer wieder daran zu erinnern. Die Propheten mussten die Heuchelei bloßstellen, die mit eifriger Befolgung von rituellen Vorschriften sich gedeckt glaubte. Was die Gebote der zweiten Tafel anlangt, so schöpfen die Propheten hier ihre Ermahnungen unmittelbar aus dem Gesetz; sie zeigen, wie jegliches Unrecht gegen den Nächsten, Gewalttat und Betrug verboten sind. Kurz, sie wollen nichts anderes, als das Volk im Gehorsam gegen das Gesetz erhalten.
Etwas anders steht es bei den Drohungen und Verheißungen. Hier haben die Propheten insofern eine eigentümliche und besondere Bedeutung, als sie, was Mose nur im Allgemeinen angekündigt hatte, bestimmt bezeichnen. Auch erhielten sie besondere Gesichte, in denen ihnen Gott die Zukunft offenbarte. Sie sollten dadurch in den Stand gesetzt werden, Verheißungen und Drohungen unmittelbar auf die Lage des Volkes anzuwenden und Gottes Willen im einzelnen Fall näher kundzutun. So lesen wir bei Mose Drohungen wie (3. Mos. 26, 36; 5. Mos. 28, 25 ff. 65 f.; 32, 25): Der Herr wird dich mit dem Schwert verfolgen, außen sollen die Feinde, innen die Zwietracht dich fressen; dein Leben soll wie an einem Faden hängen, vor dem fallenden Blatt sollst du erbeben usw. Die Propheten aber drohen: Siehe, der Herr stehet wider dich: er rüstet Assur aus (vgl. Jes. 5, 25; 10, 28 ff.); er zischt herbei die Ägypter (Jes. 7, 18); er erweckt die Chaldäer; Israel soll in die Gefangenschaft geführt werden; seine Herrschaft soll vernichtet werden; Jerusalem wird der Feind verwüsten, den Tempel wird er verbrennen (Mi. 3, 12; Jer. 7, 14. 32 ff.). Ähnlich verhält es sich auch mit den Verheißungen. Mose sagt: Wenn du die Gebote halten wirst, wird Gott dich segnen. Dann zählt er die Segnungen Gottes im Allgemeinen auf (vgl. z. B. 5. Mos. 28, 1 ff.). Die Propheten dagegen führen einzeln auf: mit dieser oder jener Wohltat wird Gott dich segnen. Oder Gott verheißt durch Mose: Wenn du auch bis an die Enden der Erde zerstreut und zersprengt wirst, so will ich dich doch wieder sammeln (5. Mos. 30, 4); durch die Propheten aber: Wenn ich dich gleich nach Babel verstoße, so will ich dich doch nach siebzig Jahren wieder erretten.
Endlich sprechen die Propheten auch mit klareren Worten von dem Bund der frei geschenkten Gnade, den Gott einst mit den Patriarchen geschlossen hatte. Sie suchen das Volk in ihm zu befestigen und weisen die Frommen immer auf ihn hin, sei es, dass sie nur im Allgemeinen Trost zusprechen oder bestimmt vom Kommen Christi zeugen wollen. Denn er war des Bundes Grundstein und das Band der Gemeinschaft zwischen Gott und Volk: daher denn auch die gesamte Verheißung, wie sie auf ihn zurückgeht, so auch ihn zum eigentlichen Inhalt hat. Behält man dies im Auge, so sieht man leicht, was man in den Propheten zu suchen hat und was ihre Schriften in Wahrheit wollen. So dürfte, was nunmehr gesagt ist, als vorläufiger Hinweis genügen.
Zugleich ergibt sich hieraus, wie wir es mit der Lehre des göttlichen Wortes halten sollen. Die Propheten können es uns zeigen, wenn wir sehen, wie sie Mahnungen, Tadel, Drohung und Trost aus dem Gesetze schöpfen und je nach dem Bedürfnis der augenblicklichen Lage auf das Volk anwenden. Zwar Offenbarungen und Weissagungen, die sie täglich erhielten, werden uns nicht beschert; aber es lohnt sich der Mühe, die Handlungsweise unseres gegenwärtigen Geschlechts zu vergleichen mit dem Tun jenes Volkes in vergangenen Zeiten, und wir sollen aus Geschichte und Beispiel Gottes Gerichte kennen lernen. Was er damals strafte, wird er gewiss auch heute strafen; denn er bleibt zu allen Zeiten derselbe. In dieser Richtung möge man über die Worte der Propheten nachdenken und sie in verständiger Weise anwenden, wenn ihre Behandlung Frucht bringen soll.
So viel von den Propheten im Allgemeinen. Um nun auf Jesaja zu kommen, mit dem wir es hier zu tun haben, so ergibt sich aus der Überschrift des Buches mit genügender Klarheit, wer er war, und wann er geweissagt hat. Denn hier lesen wir, sein Vater habe Amos geheißen; und man hält dafür, dass dieser Amos ein Bruder des Asarja, des Königs von Juda, gewesen sei. Danach wäre Jesaja königlicher Herkunft; in der Tat ist dies die übereinstimmende Ansicht aller älteren Ausleger. Die Juden erzählen auch, dass er der Schwiegervater des Königs Manasse gewesen sei. Doch weder seine königliche Abkunft noch diese nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zum königlichen Hause vermochten es zu hindern, dass er aus Hass gegen das göttliche Wort umgebracht wurde. Man behandelte ihn nicht anders, als irgendeinen gemeinen Mann aus dem Volke, ja wie einen unbekannten und verächtlichen Menschen. – Die Zeit, zu welcher Jesaja weissagte, ergibt sich aus den Königsnamen der Überschrift. Manche nehmen an, dass er erst gegen Ende der Regierung des Usia als Prophet aufgetreten sei. Sie schließen das aus dem Bericht über das Gesicht Jesajas im 6. Kapitel, wo er bezeugt, dass er als Prophet bestätigt wurde. Doch steht diese Annahme auf sehr schwachen Füßen, wie sich seiner Zeit näher ergeben wird. Jedenfalls aber ergibt sich eben aus der Überschrift dieses 6. Kapitels, dass Jesaja noch gleichzeitig mit Usia geweissagt hat. Ich kann darin nichts Unwahrscheinliches finden. Wie es sich aber auch hiermit verhalten mag: das steht fest, dass Jesaja mindestens 64 Jahre und länger in prophetischer Tätigkeit gestanden hat. Jotham nämlich regierte 16 Jahre, ebenso lang Ahas, Hiskia 29 Jahre, macht zusammen bereits 61 Jahre. Dazu kommt noch die Zeit seiner Tätigkeit unter Usia, sowie die unter Manasse, von dem er getötet wurde. Somit ergibt sich, dass Jesaja mindestens 64 Jahre unausgesetzt als Prophet gewirkt hat; doch ist wahrscheinlich, ja fast sicher, dass man über diesen Zeitraum noch um 10 Jahre hinausgehen darf. Da sich dies jedoch nicht ganz klar aus der Geschichte erweisen lässt, will ich darauf kein Gewicht legen. Immerhin mögen alle Diener Gottes diese lange Dauer der Wirksamkeit Jesajas sich fleißig vor Augen halten! Mögen sie daran lernen, wie man jede Lage, und sei sie noch so hart und schwierig, geduldig tragen muss; mögen sie auch nicht ungehalten sein, wenn es heißt, vieles und Schweres ertragen – nachdem ihnen solche Vorbilder geduldigen Ausharrens vor Augen stehen! Die schwerste Versuchung für sie ist doch die, zu erleben, wie trotz aller Arbeit kein Fortschritt sich zeigen will. Da möchten sie wohl gar oft lieber ihr Amt und alles von sich werfen, als so lange sich vergebens abmühen. Darum ist es gut, das Beispiel dieser Propheten sich häufig vorzuhalten. Jesaja hat wenig erreicht mit der langen und schweren Arbeit seines Lebens, Jeremia hat 50 Jahre lang nicht abgelassen, seinem Volk mit lautem Ruf zu predigen, und es ward nur umso halsstarriger dadurch: dennoch aber ließen sich beide durch keine Schwierigkeit von ihrem Weg abbringen. So müssen auch wir unverrückt unsere Pflicht erfüllen und jegliche Mühsal geduldigen Herzens auf uns nehmen. Beachtenswert ist auch, was aus dem Wechsel der Könige sich ergibt, die in der Überschrift aufgezählt werden. Unmöglich konnten bei so vielen Veränderungen die Zustände dieselben bleiben – auch wir wissen es ja: wenn in einem Staatswesen eine Umwälzung erfolgt, so greifen allgemein neue Sitten um sich – vielmehr musste mit Notwendigkeit Verwirrung jeder Art entstehen. Dennoch blieb Jesaja unbesiegt und unerschütterlich, nie ließ er den Mut sinken, - ein leuchtendes Vorbild für alle Knechte Gottes, die auch ungebeugt stehen sollen bei allem Wandel.
Man könnte fragen, ob die Überschrift des Buches Jesaja vom Propheten selbst herrührt oder von irgendeinem andern. Auf diese Frage geht, so weit ich sehe, keiner der bisherigen Ausleger ein. Obwohl ich eine völlig befriedigende Antwort auch meinerseits kaum geben kann, möchte ich doch wenigstens meiner Meinung Ausdruck verleihen. Die Sache wird sich etwa in folgender Weise zugetragen haben. Wenn die Propheten dem Volke gepredigt hatten, schrieben sie den Hauptinhalt ihrer Worte kurz nieder und hefteten das Schriftstück an die Tempeltüren, damit jedermann es lesen könne und der Inhalt recht allgemein bekannt werde. Nachdem es so einige Tage öffentlich ausgestellt war, nahmen die Priester es ab und legten es in die Schatzkammer, damit es als ein ewiges Denkmal erhalten bliebe. Dann mögen allmählich aus diesen einzelnen Stücken die Schriften der Propheten zusammengestellt worden sein. Dies lässt sich aus dem 2. Kapitel des Propheten Habakuk schließen, wofern man seinen Inhalt sorgfältig erwägt, nicht minder auch aus dem 8. Kapitel unseres Propheten. Wer jedoch genau und mit selbständigem Urteil die Bücher der Propheten durcharbeitet, wird uns zugeben müssen, dass ihre einzelnen Reden nicht immer in der richtigen Ordnung zusammengestellt worden sind. Das Buch wuchs zusammen, wie es eben Gelegenheit und Zufall mit sich brachte. Darin aber erkennen wir die Hand der göttlichen Vorsehung, dass durch die Priester, welche, wiewohl nicht selten die heftigsten Feinde der Propheten, die Weissagungen der letzteren den Nachkommen zu übermitteln hatten, uns die Worte der Propheten dennoch bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben sind.