Lukas 18,39
Andachten
Die aber vorne an gingen, bedrohten ihn, er solle schweigen. Er aber schrie viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
Die Pharisäer gingen in religiösen Dingen vorne an, aber wenn ein Zöllnerherz nach dem Erlöser rief, so bedrohten sie es, dass es schweige. So war es auch nicht selten in der Geschichte der Kirche, dass ein in Würde und Gelehrsamkeit hoch Stehender innerhalb seines Sprengels jeglichen Ausschrei nach einem Heiland der Sünder zu verhindern suchte. Leider gibt es heute noch etwa Eltern, die besorgter sind, wenn ein Kind zu beten anfängt, als wenn es auf dem breiten Wege der Weltlust nachgeht. Ein gut Teil der heutigen Literatur hat ebenfalls den Zweck, jegliches Fragen nach Jesu zu verhindern, zu bedrohen und lächerlich zu machen. Wenn uns je eine solche Hinderung entgegentritt, so sollen wir, dem Blinden gleich, nur noch viel mehr schreien.
Das laute Rufen macht es zwar nicht aus; man kann es auch innerlich tun, wenn es nur aus einer Not entspringt und zum Retter zielt. Hat dieser, trotz des Geräusches der Menge, des Blinden Stimme vernommen, so wird auch unser Seufzen an sein Herz dringen. Es gibt eine Ausdauer im Böses tun, warum sollte die Zähigkeit im Gutes tun sie nicht übertreffen? Zu beten braucht sich niemand zu schämen, er hat Gott auf seiner Seite. Ein Abraham hat gebetet, ein Mose, ein David hat gebetet, Paulus war ein Mann des Gebets, und der einzige, der alle Kraft in sich besaß und nie eine Sünde begangen, hat am meisten von allen Erdenpilgern gebetet. Darum sind wir in einem guten Orden, wenn wir trotz Bedrohung noch viel mehr rufen.
Der Blinde hat aus früher gehörten Taten Jesu in seinem durch äußere Eindrücke weniger gestörten Geiste den Schluss gezogen, dass Jesus der Messias sei. Darum lautet seine Anrede und zugleich seines Glaubens Bekenntnis: „Du Sohn Davids.“ Durch die Not gedrängt, eilt sein gläubiges Herz der vollen Erkenntnis weit voraus; aber wenn er auch nicht genau hätte Rechenschaft geben können, warum er also spricht, so nimmt der Herr es dennoch an. Ist des Gebetes Pfeil recht gezielt und treibt ihn ein starkes Heilsverlangen, so trifft er den Herrn, auch wenn die Erkenntnis noch mangelhaft wäre. Und wenn einer mit Klarheit es wissen und überzeugend beweisen könnte, dass und warum Jesus der Verheißene ist, so würde sein Wissen doch nur des Kleides Saum berühren, im Vergleiche zu dem vollen Erkennen, das uns einst zuteilwird, wenn wir ihn schauen werden, wie er ist.
Erbarme dich meiner! so schreit der Blinde in der Überzeugung, dass er nicht den leisesten Rechtsanspruch auf Hilfe hat. Sein Gebet ist kurz, aber umfangreich. Was für ein Anliegen jemand auch hat, in diesen Schrei eingekleidet, geht es zum Herzen Gottes. So betet ein David nach dem Fall, ein Zöllner im Tempel, ein verlorener Sohn beim Anblick seines Vaters, Petrus nach der Verleugnung, am Kreuze der Schächer und Paulus vor den Toren von Damaskus. Es ist das Hauptgebet aller armen Sünder, ehe sie Begnadigung haben, und wird nach Empfang derselben immer wieder über ihre Lippen kommen müssen, bis dass sie aller Gefahr des Sündigens entronnen sind und sie einstimmen in das Gebet der Engel, der Ältesten und der tausendmal Tausend, mit deren Worten auch wir jetzt beten wollen:
Das Lamm, das erwürgt ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob! Amen. (Rudolf Wenger)