Johannes 16,32
Andachten
Siehe, es kommt die Stunde, dass ihr mich allein lasst; aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.
In die entscheidendsten Stunden unseres Lebens müssen wir allemal allein gehen. Wenn wir versucht werden, Niemand kann mit uns gehen und an unsrer Stelle kämpfen, sonst wär's ja keine Versuchung mehr. Wenn Kreuz und Leid uns aufgelegt wird, wie sehr auch Andrer Liebe uns tröstet, so wie der Leidende selbst kann's doch keiner fühlen. Und naht uns der Tod, wir müssen allein auf den geheimnisvollen Weg, Keiner kann uns begleiten. Aber in all den Stunden, wo der Menschen Liebe uns ferner tritt, kommt Gottes Liebe uns um so näher. Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. Grade die Not der Vereinsamung soll dich treiben, Gottes Vaterherz zu suchen, und die Klage über die Ohnmacht aller menschlichen Liebe soll sich verwandeln in den Preis seiner ewigen Treue, die sich nimmer verleugnet. Es ist gut, auf den Herrn vertrauen, und sich nicht verlassen auf Menschen. Vater und Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf. Wenn ich dich nur habe, frage ich nichts nach Himmel und Erde. Der Herr ist mein Hirt, und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir! Herr, bleibe bei mir, wenn es will Abend werden und der Tag sich neigt. Verlass mich nicht, ob ich dich gleich oft verlassen habe; verwirf mich nicht von deinem Angesicht, ob ich gleich oft dich und dein Wort verworfen habe. Gib, dass ich fest auf deine Verheißung baue: Ich will dich nicht verlassen noch versäumen. So gib mir ein tapferes Gemüt, dass ich mich vor keiner Gewalt fürchte, die sich wider dich auflehnt, dass ich mich im Glück nicht überhebe, und im Unglück nicht verzage. Gib mir den Geist der Stärke, dass ich die Wahrheit liebe und bekenne, und der Gerechtigkeit beistehe ohne Wanken, und wenn's dein Wille ist, auch getrost leide. Lass mich auf den festen. Grund Gottes erbaut werden, welcher besteht und hat dies Siegel: Gott kennt die Seinen. Glauben wir nicht, so bleibt Er treu: er kann sich selbst nicht leugnen. Bewahre mich durch deine göttliche Macht zur Seligkeit; lass mich einher gehen in der Kraft des Herrn, meines Gottes, stark sein im Herrn und in der Macht seiner Stärke. Amen. (Adolf Clemen)
“Es kommt die Stunde, dass ihr zerstreut werdet, ein jeglicher in das Seine, und mich allein lasst.“
Nur wenige Jünger waren Zeugen des Leidens in Gethsemane. Die Mehrzahl derselben war noch nicht gefördert genug in der Gnadenerkenntnis, um teilhaben zu dürfen an dem Anblick der Geheimnisse, die sich offenbarten an der Stätte, da Er „mit dem Tode rang;“ ein jeder von ihnen war mit der Passahfeier im eigenen Hause beschäftigt, und so vergegenwärtigen sie uns die vielen, die nach dem Buchstaben leben, aber noch unmündig sind in Beziehung auf den Geist des Evangeliums. Nur Zwölfen, nein, nur Elfen war gestattet worden, mit in den Garten Gethsemane zu gehen und zu „besehen dies große Gesicht.“
Von den Elfen mussten acht in einiger Entfernung zurückbleiben; sie waren wohl Genossen der Gemeinschaft, aber nicht in so vertraulichem Grade, wie es innig geliebten Menschen sonst zuteil wird. Nur drei Bevorzugte durften dem Vorhang des geheimnisvollen Leidens unsers Herrn nahen; und auch sie mussten davor stehen bleiben bei einem Steinwurf weit. Er musste die Kelter allein treten, und niemand durfte bei Ihm sein. Petrus und die beiden Söhne Zebedäi vertreten die vorzüglichen, bewährten Heiligen, die den Namen „Väter“ verdienen; sie kennen die Wut großer Wellen und können vielleicht die ungeheuren Sturmfluten des Heilandsleidens ermessen. Wenigen auserwählten Geistern wird zum Besten andrer und zur Stärkung für künftige Zeiten ein besonderer furchtbarer Kampf verordnet, um ins innere Heiligtum eintreten und das Flehen des leidenden Hohenpriesters vernehmen zu können: sie dürfen erkennen die Gemeinschaft seiner Leiden, dass sie seinem Tode ähnlich werden. Aber auch diese können nicht hindurchdringen in das Allerheiligste seiner Schmerzen. „Deine unerkannten Leiden,“ lautet eine merkwürdige Stelle der griechischen Liturgie: es gab noch einen innersten Raum in der Trübsalswohnung unsers Meisters, der jedem menschlichen Blick und Zutritt verschlossen blieb. Dort wird Jesus „einsam gelassen.“ Hier war Jesus mehr als je eine „unaussprechliche Gabe!“ Es heißt so schön in einem unsrer Lieder:
„Herr, stärke mich,
Dein Leiden zu bedenken,
Mich in das Meer der Liebe zu versenken,
Das Dich bewog,
von aller Schuld des Bösen
Uns zu erlösen.“ (Charles Haddon Spurgeon)