Philipper 4,12
Andachten
„Ich kann niedrig sein und kann hoch sein.“
Gewiss - aber doch ist man lieber hoch als niedrig. Wenn hohe Persönlichkeiten einen ehren, große Erfolge sich einstellen, viel Liebe einem zuteil wird, mancherlei Annehmlichkeiten dieser Welt den rauen Arbeitspfad mit Blumen bestreuen, dann weitet sich die Brust, und man läuft seine Bahn wie ein Held. Ich will gar nichts von den Gefahren dabei sagen, die das wahre Gedeihen des inneren Lebens dann gerade bedrohen. Nur, dass einem wohler zumute ist und dass man freudiger arbeitet. Ist das nicht natürlich? Aber an kleinen Arbeiten mit täglichen Misserfolgen, bei körperlichem Druck und Nichtachtung oder Feindschaft der Menschen - also wenn es niedrig hergeht - hängt sich da nicht leicht jene müde Ungeduld, jene schlaffmachende Verstimmung einem an, dass man sich für einen elenden, vom Herrn vernachlässigten Knecht hält. Wie frei muss Paulus von der Macht der Umstände geworden sein, bis dass er so etwas sagen kann! Hier liegt eitle Mahnung für jeden verborgen: wir sind dazu berufen, die Umstände zu beherrschen, nicht aber ihrem Einfluss zu erliegen. Mit günstigem Wind kann bald jeder segeln; aber gegen Wind, das kostet Mühe und Kraft.
Darum, Herr Jesus, will ich nicht murren, wenn mir Zeiten der geringen Dinge besondere Aufgaben. stellen. Mach mir meinen Kurs gegen die Gunst und gegen die Kraft des Zeitwindes dann besonders klar und stärke mir den Arm des Glaubens und schärfe mir den Blick auf dich. Amen. (Samuel Keller)
“Ich kann hoch sein.“
Viele, welche können „niedrig sein,“ haben das „Hochsein“ noch nicht gelernt. Wenn sie auf die Zinne eines Turmes geführt werden, wird ihnen das Haupt schwindlig, und sie stehen in Gefahr, hinunter zu fallen. Der Christ verunehrt seinen Glauben gar viel öfter im Glück als im Unglück! Glück bringt Gefahr. Das Kreuz der Not ist für den Christen eine leichtere Heimsuchung, als der Läuterungstiegel des Wohlergehens. Ach, wie viel Vernachlässigung des Seelenheils, wie viel Armseligkeit an geistlichen Gütern ist nicht schon hervorgegangen sogar aus den Gnadenerweisungen und Wohltaten Gottes! Aber das muss nicht notwendig so sein, denn der Apostel sagt uns, dass er auch konnte hoch sein. Ward ihm viel geschenkt, so wusste er‘s zu gebrauchen. Überschwängliche Gnade hat ihn nur in den Stand gesetzt, unendliches Glück zu ertragen. Da sich sein Segel schwellte, befrachtete er sein Schiff mit schwerer Last und fuhr wohlbehalten dahin. Es bedarf übermenschlicher Kunst, den vollgefüllten Becher der irdischen Freude ruhig und sicher in der Hand zu tragen, aber Paulus hat diese Kunst verstanden, denn er bezeugt: „Ich bin in allen Dingen und bei allen geschickt, beides, satt sein und hungern.“
Es ist ein göttlicher Unterricht, wenn man lernt geschickt sein zum satt sein, denn die Kinder Israel wurden einst satt, aber da das Fleisch noch unter ihren Zähnen war, kam der Zorn Gottes über sie. Viele haben darum gebeten, dass es ihnen möchte geschenkt werden, ihres Herzens Gelüsten zu befriedigen. Volles Brot macht oft volles Blut, und das führt zum geistlichen Übermut. Wenn wir viele Gnadengaben der Vorsehung zu genießen haben, geschieht‘s oft, dass wir umso weniger in der göttlichen Gnade stehen und wenig Dank empfinden für die Wohltaten, die uns zuteil geworden sind. Wir sind satt und vergessen Gottes; gesättigt vom Irdischen, begnügen wir uns ohne den Himmel. Seid versichert, dass es schwerer ist, satt sein können, als hungrig sein können; so verzweifelt böse ist das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens und seine Neigung zum Stolz und zur Gottesvergessenheit. Habt acht, dass ihr in eurem Gebet eingedenk seid, Gott wolle euch lehren, dass ihr auch könnet „satt sein.“
„Lass nie die Gaben Deiner Gunst
Dir unser Herz entwenden.“ (Charles Haddon Spurgeon)
Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; ich bin in allen Dingen und bei allen geschickt, beides, satt sein und hungern, beides, übrig haben und Mangel leiden. Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.
Alles können, Mangel haben und Überfluss haben ohne Störung für das inwendige Leben, ohne Schwankung, die aus Gottes Wegen weicht, das ist herrliche Freiheit. Wen lockt sie nicht? Wir fürchten den Mangel, weil er mit seiner nagenden Pein unsere Kraft verzehrt, und wir fürchten den Überfluss, weil er unsere Phantasie aufregt, unsere Begehrlichkeit entzündet und uns mit Bedürfnissen belastet, die uns knechten. Eine Freiheit, wie Paulus sie hatte, gibt uns die königliche Haltung sowohl gegenüber unserem eigenen Leib als auch gegenüber den Menschen, von denen die Menge unserer Bedürfnisse uns abhängig macht. Auch andere haben nach dieser Freiheit gestrebt, aber auf anderem Wege als Paulus, dadurch nämlich dass sie ihren Leib misshandelten, um von den natürlichen Gründen des Lebens loszukommen. So kamen sie aber nicht in die Freiheit, die alles kann, nicht nur hungern, sondern auch satt sein und Überfluss haben. Sie haben darum ihren Gewinn mit einem schweren Verlust erkauft, da sie die Freiheit durch die Verkürzung des Lebens erstrebten. Paulus gewann seine Freiheit nicht durch eine Mönchsregel, an die er sich gewaltsam gewöhnt hätte, und nicht durch ein System, in das er sein Leben einzwängte. Der, von dem ihn kein Mangel losriss und kein Überfluss weglockte, war sein Herr, der in jeder Lage mit seiner allmächtigen Gnade bei ihm war. Weil Paulus am Christus das tiefste Verlangen seiner Seele stillte und von jenem Hunger, der im innersten Grunde unseres Wesens entspringt, frei geworden war, darum konnte er darben ohne Pein, und weil Christus in ihm eine Liebe erweckt hatte, die seine Seele völlig füllte, darum verwirrte und verdarb ihn kein Überfluss.
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir die Hilfe kommt. Aus erhobener Höhe kommt sie herunter zu mir, der ich ihrer bedarf, um von dem frei zu werden, was an mir zerrt und mich bedrückt. Sehe ich zu Dir empor, dann verliert das seine Kraft, was mich erschreckt und lockt, zieht und fesselt. Du, Herr, bist meine Stärke und mein Gut. Nach Dir verlangt meine Seele; denn Du machst uns frei. Amen. (Adolf Schlatter)