Psalm 116,11
Andachten
Alle Menschen sind Lügner.
Es ist eben ein entsetzliches Lügengewebe in uns, und sehr wahr, was die Schrift sagt: „alle Menschen sind Lügner.“ Namentlich lügen die Menschen in ihrem natürlichen Zustand immer sich selber an. Sie betrachten alle ihre Sachen durch den Spiegel der Eigenliebe, und darin wird ihr bisschen Gutes tausendfach vergrößert und verschönert, und ihr Böses millionenfach verkleinert. Redet Einer zuweilen die Wahrheit mit seinem Nächsten, so hält er sich sofort für einen sehr aufrichtigen Menschen, und steift sich darauf; hat er Glück, so schreibt er es hernach seiner Aufrichtigkeit zu, weil es den Aufrichtigen gelingen müsse; kommt ein Unglück über ihn, so weiß er sich nicht darein zu finden, dass ihm, einem solchen Menschen, Gott diese Plage zuschicke. Gerät einem Anderen eine Arbeit, die er vor sich hat, so meint er, er sei aller Weisheit und alles Witzes voll. Gibt ein Dritter hin und wieder etwas von seinem Überflusse den Armen oder sonst zu wohltätigen Zwecken, so hält er sich bald für einen besonderen Menschenfreund und Wohltäter der Menschheit. Liest Einer hin und wieder in der Bibel, oder hat er einmal ein andächtiges Gefühl gehabt beim Anblick der Natur oder bei Betrachtung einer biblischen Wahrheit, sofort rechnet er sich unter die Leute, welche es in der Religion auf etwas Tieferes anlegen, als der nachbetende Pöbel. Den Fehlern aber, die der Mensch an sich bemerkt, gibt er lauter Namen von Tugenden. Ist ein Mensch geizig, so rühmt er vor sich und Anderen seine Sparsamkeit, seine Treue im Kleinen, seinen haushälterischen Sinn, seine Fürsorge für seine Familie; seinen Eigensinn nennt der Mensch festen Willen, männliche Beharrlichkeit, Charakterstärke; seinen Stolz nennt er Edelmut, Gefühl seiner Menschenwürde, gerechte Anerkennung seiner eigenen Vorzüge; ein Verschwender und Weichling sagt von sich, er habe eben ein gutes Herz! Ein grober Mensch, der Anderen gern weh tut, behauptet, er sei nur zu aufrichtig und gerade, die Welt könne es jetzt nicht mehr ertragen; und hat einer sogar grobe, in die Augen fallende Laster begangen, so gesteht er zuletzt, er habe zwar seine Fehler oder seine Fehlerchen, aber wenn er auch diese nicht hätte, so wäre er ein Engel. Und das Alles tut der Mensch, damit er sein Nichts nicht erkennen müsse, weil er seine Seligkeit darin sucht, etwas zu sein, Gefallen an sich selber zu haben. (Ludwig Hofacker)