Denn so jemand das ganze Gesetz hält, und sündigt an Einem, der ist's ganz schuldig.
Man sagt sich oft, um sich zu rechtfertigen: Ich habe doch die oder jene Pflicht erfüllt, und kann mir wohl eine Kleinigkeit erlauben. Aber macht das Gesetz Gottes auch Ausnahmen von der Regel? Was geschieht, wenn man neunmal gehorsam gewesen ist und nur einmal ungehorsam ist? Man gehe sich auf den Grund, und man wird ein so tiefes Unbehagen fühlen, als wenn man zehnmal ungehorsam gewesen wäre, denn der wahre Friede mit Gott ist weg. Es lässt sich von Gottes Gesetz auch nicht ein Häkchen abbrechen, und das ist gut. Was geschähe, wenn man sich zuweilen etwas zu gut tun könnte auf Unkosten irgendeines Gebotes Gottes? Man gebe dem Teufel heute ein Haar, so packt er uns morgen beim Arm. Ein Trunkenbold trank zuerst nur ein Gläschen - wer dürfte sich das nicht erlauben? aus dem Gläschen wurde aber den andern Tag ein Schoppen, aus dem Schoppen sodann eine Maß, und so rollt man in den Abgrund, man darf nur mit Kleinigkeiten anfangen. Wäre das Gesetz Gottes nicht ein zweischneidiges Schwert und dränge es nicht in die Sinne und Gedanken des Herzens, wir wären bald fertig mit allen Geboten; eines quälte uns bald so wenig als das andere. Die kleinen Sünden stumpfen das Gewissen am allermeisten ab, und man kommt nicht mehr dazu, recht zu beten, wenn das Gesetz Gottes im Geringsten von seiner Schärfe verloren hat. Der gewöhnliche Mensch sauft Unrecht wie Wasser; hingegen Dem, der es genau nimmt mit den Geboten Gottes, kann eine einzige Untreue so viel zu schaffen geben, als hätte er die ganze Gesetzeslast auf dem Gewissen. Es sind nicht die Werke des Ungehorsams, es ist der Geist des Ungehorsams, der gerichtet werden muss. Klein oder groß, die Sache ist dieselbe, denn der Geist ist derselbe. In dem Geist des Ungehorsams liegt aber unser Grundverderben, und so lange nicht die Sünde in ihren Wurzeln angegriffen wird, ist auch an keine Bekehrung zu denken. (Friedrich Lobstein)