1. Korinther 13,2
Andachten
Wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also dass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.
Der warnende Finger des Paulus zeigt hier auf ein finsteres Rätsel hin. Ist es denn möglich, dass ein Mensch durch das Vollmaß der Erkenntnis in das Licht gestellt ist und sich doch dem Licht entzieht und nicht zum Kind des Lichtes wird? Er entzieht sich aber dem Licht, wenn er die Erkenntnis hat, ohne die Liebe zu haben. Kann ich denn Gott kennen, ohne zu sehen, was er ist, nämlich dass er Liebe ist, und kann ich ihn kennen, ohne von ihm gekannt zu sein mit jenem Blick seiner Gnade, die seinen Willen in uns wirksam macht? Und wie ist es möglich, dass ich allen Glauben habe, Glauben, der mich zum Gebieter über die Berge und Herrn der Welt macht, ohne dass ich Liebe habe? Ist nicht jeder Glaube das Ergreifen der göttlichen Liebe? Wie kann ich anders Berge bewegen als so, dass ich Gottes allmächtige Gnade anrufe und sie für mich habe? Nun soll ich aber Gottes Gnade nicht nur wissen, sondern glauben und nicht nur von ihr reden, sondern sie begehren und nicht nur nach ihr verlangen, sondern sie auch erfahren, und dennoch selber ohne Liebe sein? Dieses Rätsel ist aber nicht die Ausgeburt einer düsteren Sorge, die Paulus in einer dunklen Stunde grundlos gequält hätte, sondern hat in dem, was wir sind und tun, starken Grund. An allem, was uns begabt, bereichert und stärkt, entsteht eine Frage, die nicht von selbst ihre Antwort findet, die, ob ich das mir Gegebene an mich ziehe und deshalb schätze, weil es mich stärkt und mein Leben verklärt, und daran satt bin, dass ich selber zur Erkenntnis gelangt und zum Glauben gekommen bin, oder ob ich mir von Gottes Liebe und Gabe die Verwerflichkeit meiner Eigensucht zeigen lasse und sie in den Tod gebe. Gewiss gibt es keine Erkenntnis Gottes, die uns nicht zur Tat beruft und in den Dienst seiner Güte stellt, und gewiss gibt es keinen Glauben, der nicht geschäftig und tätig wäre, wobei das, was der Glaube begehrt, durch die Liebe geschieht. Allein dies tritt dann ein, wenn nicht mein boshafter Wille dazwischen fährt und aus dem, was Gottes ist, mein Eigentum macht, das ich missbrauche, indem es mir einzig mir selber dienen soll. Keine Steigerung der Erkenntnis und keine Kräftigung des Glaubens überwindet diese Gefahr; denn sie steigt mit der Größe unserer Begabung. Abgewehrt wird sie nur durch die Buße, durch die Öffnung des Ohrs für Gottes Gericht, das meine Eigensucht verdammt, und für sein gnädiges Wort, das mir Gottes helfenden Willen teuer macht.
Ich erschrecke vor dem, was wir Menschen fertig bringen, vor der Allgewalt unserer Eigensucht, die auch im Licht deiner Erkenntnis nicht ersterben will. Darum aber weil dein Wort mir die Größe meiner Not und Schuld enthüllt, ist es mein Heil. So führt es mich zu dir. Amen. (Adolf Schlatter)