Römer 12,10
Andachten
“In Ansehung der Brüderlichkeit voll Zartheit gegeneinander.“ (Frei übersetzt)
Ein schneller Blick in einen sehr guten Spiegel zeigt uns einen Flecken im Gesicht. So scheint mir s mit diesem Wort des Apostels zu sein. Ist in dieser hellen Beleuchtung nicht ein Fehler an meiner Liebesstellung gegen die Brüder? Die Brüderlichkeit setzt das Wort als vorhanden voraus; ich will das mal heute bei mir auch tun. Aber hat sie diesen zärtlichen Charakter einer familienhaften Zuneigung? Gegen einige Menschen, die mir gar nicht verwandt sind, gewiss. Ihr Schmerz wäre mein Schmerz; ihr Glück würde meines erhöhen; ihre Verunglimpfung würde mich erzürnen. Aber wie wenige sind es unter den Tausenden, die vielleicht an meine christliche Bruderliebe ihnen gegenüber glauben? Manchen gegenüber finde ich in mir Gleichgültigkeit oder nur schwache Ansätze von Interesse; andere liebe ich mit einem starken Aber! Wo ist die neidlose Freude an meinen Brüdern? Auf einmal scheint's mir, als ob meine brüderliche Liebe kleiner geworden sei, seit ich sie so aufmerksam betrachte, und der schwarze Flecken selbstischer Gefühle wächst. Und zart? Rücksichtsvoll, sie schonend und hegend? Erst recht nicht!
Da ist kein Rat, Herr Jesus, du musst dich ins Mittel legen. Vergib mir das eigene Wesen so, dass es ausgewurzelt abfallen kann, und gib mir deine Liebe zu den Brüdern so, dass sie fest einwurzeln und stark wachsen kann und blühen und grünen zu deiner Ehre und der Brüder Freude. Amen. (Samuel Keller)