Calvin, Jean – Das Evangelium des Johannes - Einleitung

Calvin, Jean – Das Evangelium des Johannes - Einleitung

Das griechische Wort „Evangelium“ bedeutet „frohe Botschaft“. In der Bibel hat es den engeren Sinn der bestimmten frohen Botschaft, dass uns in Christo die Gnade Gottes geschenkt werden soll, - uns ein Antrieb, die Welt mit ihren vergänglichen Gütern und Genüssen zu verachten und statt dessen mit herzlichem Verlangen dies unvergleichliche Gut zu begehren und zuzugreifen, wenn es uns angeboten wird. Weltlich gesinnte Leute geben sich bei den eitlen Vergnügungen der Welt zügelloser Freude hin, haben jedoch gar kein oder nur ganz wenig Gefühl für geistliche Güter. Ja, wohl bei uns allen ist das angeborene Art. Diese Übel will Gott entgegentreten. Deshalb bezeichnet er gerade die Verkündigung Christi mit dem Namen „Evangelium“. Dadurch will er uns darauf aufmerksam machen, dass nirgend anderswo wahre und dauernde Freude zu haben ist; bietet er uns doch ins seinem Sohne alles, was zu einem glückseligen Leben gehört. Einige dehnen die Bezeichnung „Evangelium“ aus auf sämtliche hie und da im Gesetz und in prophetischen Büchern vorkommende Gnadenanerbietungen Gottes. Unbestreitbar bietet Gott jedes Mal, wenn er ihnen die Sünden vergibt, eben damit den Heiland an, dessen Eigenart es ist, allenthalben, wo er sich zeigt, das Licht der Freude um sich her zu verbreiten. Insofern haben sicherlich schon die Frommen des alten Bundes das Evangelium gehabt. Aber da der Geist Gottes in der heiligen Schrift die Verkündigung des Evangeliums erst von dem Auftreten Christi an datiert, so bleiben auch wir bei dieser Ausdrucksweise und gehen von unserer obigen Erklärung nicht ab: Evangelium ist die feierliche Verkündigung der in Christo geoffenbarten Gnade.

Deshalb heißt das Evangelium (Röm. 1, 16 f.) eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben, weil Gott darin seine Gerechtigkeit offenbart, oder auch (2. Kor. 5, 19 f.) eine Botschaft, durch welche er die Menschen mit sich versöhnt. Christus, das Unterpfand der göttlichen Barmherzigkeit und der Liebe des Vaters zu uns, - das ist der Inhalt des Evangeliums. So haben dann in besonderem Sinne den Namen „Evangelium“ die Geschichten erhalten, welche uns erzählen, wie Christus im Fleische erschienen ist, wie er gestorben, vom Tode auferweckt und endlich wieder in den Himmel aufgenommen worden ist. Man hat auch wohl das ganze neue Testament als das Evangelium bezeichnet, in der Regel jedoch nur den oben genannten Teil desselben. Weil übrigens die nackte Geschichtserzählung nicht genügen würde, ja ohne Heilsbedeutung für uns wäre, so erzählen die Evangelisten nicht bloß, dass Christus geboren ward, starb und den Tod überwand, sondern auch, wozu das alles geschah, und welchen Wert es für uns hat. Ein Unterschied zwischen den Evangelien besteht darin, dass die ersten drei ausführlicher über Jesu Leben und Sterben berichten, während unser Evangelist mehr bei der Lehre verweilt, die uns Christi Amt sowie die Bedeutung seines Todes und seiner Auferstehung darlegt. Matthäus, Markus und Lukas übergehen zwar nicht mit Schweigen, dass Christus gekommen ist, um der Welt das Heil zu bringen, um mit dem Opfer auf Golgatha die Sünden der Welt zu sühnen, überhaupt um nach jeder Seite hin das Amt des Mittlers durchzuführen; ebenso hält sich auch Johannes ab und zu bei der Geschichtsdarstellung auf. Bei ihm tritt jedoch die Lehre, welche uns Kraft und Frucht des Kommens Christi darlegt, weit klarer hervor als bei den anderen. Alle vier haben die Absicht, Christum zu zeigen; man darf wohl sagen: die ersten drei bringen den Leib, Johannes aber die Seele. Unser Evangelium ist der Schlüssel für die drei anderen. Wer den starken Heiland, wie er in diesem Buche uns vor die Seele gemalt wird, ergriffen hat, der wird erst mit Nutzen lesen, was die anderen von ihm berichten. Man glaubt, dass Johannes durch damals verbreitete, wider die Gottheit Christi gerichtete Irrlehren sich zum Schreiben bewogen gefühlt habe, wie das die frühesten Kirchengeschichtsschreiber schon erzählen. Welchen Grund er immer dazu gehabt haben mag, unzweifelhaft hat Gottes Vorsehung mit weitschauendem Blicke dabei über der christlichen Kirche gewaltet. Gott hat den Evangelisten in die Feder gegeben, was sie schreiben sollten, um ein einheitlich geschlossenes Ganzes zustande zu bringen, wozu jeder von ihnen seinen Beitrag lieferte. Unsere Aufgabe besteht darin, die vier wechselweise so untereinander zu vereinigen, dass wir uns von ihnen allen zusammen sozusagen aus einem Munde belehren lassen. Wenn man dem Johannes die vierte Stelle gegeben hat, so hat man dafür die Abfassungszeit in Rechnung gezogen. Beim Lesen hält man besser eine andere Reihenfolge inne. Um nachträglich bei Matthäus und den anderen nachzulesen, dass Christus vom Vater uns gegeben worden ist, lernt man zuerst von Johannes, zu welchem Zwecke er uns geoffenbart wurde.

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