Johannes 19,5
Andachten
Seht, welch ein Mensch!
Siehe, welch ein Mensch! Da sitzt Er auf dem Thron Seiner Herrlichkeit und bedarf noch heute Deines Mitleids. Ach, ihn schmerzen tief die Geißelschläge, die du Ihm mit deinen Fleischeslüsten gibst, ihm drücken so wund aufs Haupt die Dornenspitzen deiner hohen Gedanken und Ehrgeizgelüste! Seht, welch ein Mensch! um unserer Sünde willen ward er so verwundet; Er büßte unsere schändliche Lust, unseren hohen Sinn. Seht, Er kann diese unsere Sündenschuld vergeben, seht, Er kann uns Kraft geben, dass wir durch Seines Leidens Kraft rein und keusch und demütig werden, wie Er war in dieser Welt. Seht, welch ein Mensch! (Theobald Wunderling.)
Also ging Jesus heraus, und trug eine Dornenkrone und Purpurkleid. Und er spricht zu ihnen: Seht welch ein Mensch!
Seht, welch ein Mensch! „Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg.“ Seht, welch ein Mensch! Seht den Herrn in der Dornenkrone, wie er sein Kreuz trägt. Seht da, ihr Menschenkinder, die Höhe und die Tiefe von eures Gottes Liebe, sehet die Größe eurer Schuld, seht die Fülle des Trostes in all eurem Elend! Welche andre Hilfe soll Gott euch bieten, wenn ihr in diesem Anblick keinen Schutz findet gegen die Versuchung; wenn ihr daran keinen Trost findet für euer Gewissen, keine Freudigkeit, nun auch selber still und willig das Kreuz dem Herrn nachzutragen, wie schwer es auch auf euch liege! Seht, welch ein Mensch, und vernehmt, so oft ihr diese Gestalt seht, die Frage: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ Seht, welch ein Mensch, und vernehmt, so oft ihr diese Gestalt seht, das Wort des Trostes: „Du hast Gnade bei Gott gefunden.“ Seht, welch ein Mensch; ihr Mühseligen und Beladenen zumal, blicket auf ihn; diese Gestalt wird euch erquicken, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen. O Herr, auf dich wollen wir allezeit sehen. Deine Leidensgestalt wollen wir im Herzen tragen, dass daran die Lust der Sünde uns bitter, und dein Dienst uns süß werde, dass wir Gehorsam und Geduld lernen und Freudigkeit, um deinetwillen auch Schmach und Weh zu tragen. Auf dich und deine Dornenkrone wollen wir im Glauben sehen, wenn wir sterben müssen, damit wir dich einst auch sehen mögen in deiner Herrlichkeit. Amen. (Adolf Clemen)
Also ging Jesus heraus und trug eine Dornenkrone und Purpurkleid. Und Pilatus spricht zu ihnen: „Seht, welch ein Mensch!“
Was im Römer edel war und das Raubtier in ihm bändigte, war Humanität, die Ehrung des Menschlichen im Menschen, auch wenn er in den Staub getreten wird. Mochte der Christusname Jesu der Traum eines Wahnsinnigen sein, mochte er, am jüdischen Gesetz gemessen, todeswürdige Schuld sein, wie die Priester es behaupteten, Mensch war Jesus. Sogar der Jude ist für den Römer noch Mensch, sogar der mit Dornen gekrönte Christus ist es. Achtet den Menschen, sagt Pilatus, entehrt ihn nicht noch mehr; er hat genug gelitten. Aber an den Juden prallt der Appell an die Menschlichkeit ab. „Gott!“, das ist der Kampfruf, der Pilatus entgegentönt. Gottes Ehre wird verteidigt, Gottes Gesetz gehandhabt. Der, der sich an Gott vergangen hat, muss sterben. Diese Spannung kehrt in der menschlichen Geschichte immer wieder, Irregelöste Menschlichkeit und unmenschliche Religiosität wechseln miteinander ab und ringen miteinander. Auf der einen Seite steht der Humanismus, der den Menschen pflegt, dem aber an Gott nichts liegt, auf der anderen Seite der Fanatismus, der um Gottes Willen den Menschen zertritt. Wer hat in diesem Streit die Einigung? Jesus hat sie. Für wen starb er, für Gott oder für uns? So darf ich nicht fragen, ich würde so zerteilen, was Er geeinigt hat. Er ehrt den Vater, eifert für seine Ehre und bleibt unerbittlich von denen geschieden, die Gott das Seine rauben und ihm den Gehorsam versagen. Er dagegen verklärt den Vater, denn er bekennt sich zu ihm als dem Allmächtigen und allein Gerechten und barmherzig Vergebenden. Zugleich aber ehrt er den Menschen, bewahrt die Gemeinschaft mit ihm und nimmt die Schande seiner Sünde weg. „Seht, welch ein Mensch!“ Dem widersprach Jesus nicht; er bekennt sich zu uns. Ist nun sein Tod ein Opfer, das Gott mit uns versöhnt, oder ist er eine Wohltat, die uns mit Gott versöhnt? Er opfert sich dem Vater und begnadet uns mit einer und derselben Tat. Der Zorn weicht und die Schuld vergeht und der Glaube entsteht. Das ist ein einheitliches gnadenvolles Gotteswerk.
Herr, Du stellst Dich ganz zu uns und trittst an den Ort, der uns Menschen gebührt, und tust dies in der Sendung des Vaters mit Seiner Gnade. Darum bist Du unser Friede mit Gott. Amen. (Adolf Schlatter)
“Seht, welch ein Mensch!“
Wenn es irgend einen Ort gibt, wo unser Herr Jesus aufs völligste als der Trost und die Freude Seines Volkes dasteht, so ist's da, wo er am tiefsten in den Abgrund der Schmerzen versenkt ward. Kommet hierher, begnadigte Seelen, und schaut den Menschen im Garten Gethsemane; betrachtet Sein Herz, das vor Liebe so geschwellt wird, dass Er sie nicht mehr zurückhalten kann, das so von Schmerzen erfüllt ist, dass sie sich einen Ausweg bahnen müssen. Siehe Seinen blutigen Schweiß; er dringt auf jeder Pore Seines Leibes und fällt auf den Boden. Siehe den Menschen an, sie treiben Ihm die Nägel durch Hände und Füße. Schauet empor, ihr reuevollen Sünder, und sehet das Jammerbild eures leidenden Herrn. Bemerkt ihr, wie auf Seiner Dornenkrone die Rubintropfen stehen und das Diadem des Königs der Schmerzen mit unschätzbaren Juwelen schmücken? Sehet, welch ein Mensch, wenn nun alle Seine Gebeine sich zertrennet haben, und Er ausgeschüttet ist wie Wasser und gelegt wird in des Todes Staub; Gott hat Ihn verlassen und die Hölle hat Ihn umgeben. Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei, wie Sein Schmerz, der Ihn getroffen hat? Und Alle, die ihr vorübergeht, kommet und betrachtet diesen Anblick des Leidens, so einzig, so unerhört, ein Wunder vor Menschen und Engeln, ein unvergleichliches Wunderzeichen. Schauet an den Mann der Schmerzen, der Seinesgleichen nicht hat noch kennt in Seinen Todesleiden. Staunt Ihn an, ihr Trauernden, denn wenn in einem gekreuzigten Heiland euch kein Trost mehr erwächst, so gibt es keine Freuden mehr, weder im Himmel noch auf Erden. Wenn in dem Lösegeld Seines Blutes keine Hoffnung mehr blüht, dann, ihr himmlischen Harfen, lebt keine Hoffnung mehr und keine Freude in euren Tönen, und zur Rechten Gottes wird man keine Wonne mehr finden in Ewigkeit. Wir müssen nur öfter und länger unter dem Kreuze stehen bleiben, wenn wir von unsern Zweifeln und Ängsten weniger gepeinigt sein wollen. Wir brauchen nur in Seine Wunden zu blicken, so heilen die unsern. Wenn wir fröhlich und getrost leben wollen, so können wir dies nur durch die Betrachtung Seines Todes; wollen wir zur Herrlichkeit erhoben werden, so können wir dies nur, wenn wir Seine Erniedrigung und Sein Leiden betrachten. (Charles Haddon Spurgeon)