Lukas 9,59
Andachten
Und er sprach zu einem andern: folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben: gehe du aber hin und verkündige das Reich Gottes.
Ein dunkles und scheinbar hartes Wort des Herrn, dunkel und hart wenigstens für uns, die wir nicht dabei waren, die wir nicht, wie der Herr, dabei hineinschauen können in des Herz jenes Sohnes, den er hinweg rief vom Grabe seines Vaters, wie es aussah in diesem Herzen, und die wir auch nicht, wie jener Sohn, dabei dem Heiland ins Antlitz schauen und am Blick seines Auges, am Ton seiner Stimme, am Lächeln seines Mundes sehen können, wie gut er's gemeint. So viel ist gewiss, der milde Menschenfreund, der die uralten Gebote, die Gottes Griffel nicht nur in die steinernen Tafeln auf Sinai, sondern auch in die Menschenbrust von der Schöpfung her geschrieben hat, nicht auflösen, sondern erfüllen wollte, und der ausdrücklich einmal sagt: Vater und Mutter ehren sei besser denn Opfer, der hat nichts Unmenschliches, nichts Unkindliches hier von diesem Sohne verlangen wollen. Aber eine außerordentliche Zeit verlangt auch außerordentliche Opfer: mag nun der Sohn gemeint haben, er müsse seinem noch lebenden Vater vorher das Ende abwarten, oder er müsse den schon verstorbenen Vater vorher begraben, ehe er dem Heilande folge: jedenfalls sieht es aus, als hätte ihn der Herr aus einer weichlichen Empfindsamkeit, aus einer mehr weltlichen als göttlichen Traurigkeit heilsam emporrütteln wollen durch sein kräftiges: „Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes.“
Es gibt heute noch solche empfindliche Seelen und schwermütige Herzen, die zu keinem getrosten Glauben an Gott, zu keiner kräftigen Wirksamkeit in dieser Welt gelangen, weil sie alles zu schwer nehmen, weil sie irgend ein Unglück, das ihnen wiederfahren, selbst quälerisch jahrelang wiederkauen, weil sie ein Leid, das Gott oder die Menschen nach ihrer Meinung ihnen angetan, nicht vergessen und nicht vergeben können, weil sie vom Grab irgend einer zerstörten Hoffnung, einer zertrümmerten Lebensfreude sich nicht losreißen können und wollen. Es gibt wiederum andere, die da meinen, zur Frömmigkeit gehöre eitel Seufzen und Jammer, den echten Christen erkenne man an einem beständigen Sauersehen und einer stehenden Leichenbittermiene, er dürfe die Welt nur mit Hiobs Augen ansehen als ein Jammertal, und nur in Jeremias Klagetönen beweinen und beseufzen. Gewiss, ein heiliger Ernst ist der Grundton in der Seele des Christen. Gewiss, die Welt ist kein Lustgarten, am wenigsten in dieser unserer Zeit. Aber sie ist auch kein Kirchhof, wo man nur immer auf Gräbern sitzen und weinen, und kein Babel, wo man die Harfe an die Weiden hängen musste - so lange noch Gottes Sonne drin scheint, Gottes Himmelsluft drin weht, Gottes Lebensgeist drin waltet, Gottes Evangelium drin erschallt und Gottes Reich drin kommt und wächst. Und allen jenen melancholischen Seelen, die über dem Bösen in der Welt das Gute vergessen, das Gott noch drin schenkt und wirkt, die über dem Klagen und Seufzen das Wirken und Bessermachen versäumen, dazu wir als Jünger Christi berufen sind, denen gilt das ermunternde Wort des Herrn: „Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes.“
Lass das Trauern und Klagen über tote Hoffnungen und verwelkte Freuden denen, die selbst geistig tot und welk sind und keinen Funken des göttlichen Lebens in sich tragen. Lass das Jammern über die böse Zeit denen, die keinen Gott im Himmel haben. Du aber raffe dich auf in der Kraft Gottes, wie David sein Haupt wieder salbte, nachdem er sieben Tage getrauert hatte um sein Kind, freue dich, dass du noch einen Gott hast, dem du leben, und ein Wort Gottes, dessen du dich trösten, und einen Himmel, auf den du hoffen darfst. Und gehe hin und verkündige das Reich Gottes durch Wort und Tat, und wirke, so lange es Tag ist, ehe die Nacht kommt, da niemand wirken kann. „Gehe hin und verkündige das Reich Gottes.“ Ja, das ist die beste Arznei wider Traurigkeit und Herzeleid, ein emsiges Wirken im Dienste des Herrn. Wirken heißt Leben; träges Hinbrüten aber ist geistiger Tod.
So gehe auch du hin, trauernde Seele, und lass dich das Unglück, das dich betroffen, nicht niederschlagen, sondern dir ein Antrieb sein, dass du alle deine Kraft zusammennimmst, und verkündige das Reich Gottes durch heiteres Dulden, durch treues Wirken, so lange du kannst. (Karl von Gerok.)