Jesaja 64,4
Andachten
„Siehe, Du zürntest wohl, da wir sündigten und lange darinnen blieben; uns ward aber dennoch geholfen.“ („Siehe, Du zürntest, als wir von alters her gegen Dich sündigten und abtrünnig wurden.“)
Es ist ein großer Trost, wenn man sich dessen erinnern kann, dass Gott auch da, wo Schuld und große Schuld war, dennoch geholfen hat.
Es kann uns freilich bange werden und der Mut will uns ganz entschwinden, wenn wir in der Trübsal das Gefühl haben, dass Gott zürne und darum Seine Strafe so hart mache; und wenn wir uns auch dessen gar gut bewusst sind, warum Er zürne. Aber man hat’s erfahren, dass Gott in ähnlichen Lagen dennoch geholfen hat, wenn man sich ernstlich zu Ihm wandte. Das ist denn ein herrlicher Trost in allen Bedrängnissen. Ja, es ist ein schönes herrliches Dennoch, dass es heißt: „Aber dennoch ist geholfen worden“ Das muss immer wieder wahr werden, dass Gott dennoch hilft, sei die Schuld auch noch so groß. Darum sagt auch David (Ps. 103, 9f.): „Er wird nicht immerdar hadern noch ewiglich Zorn halten. Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat.“
Darum wollen wir den Mut zur Gnade Gottes nie aufgeben! Oft sagen die Leute, das sei das Ärgste an ihrer Trübsal, dass sie’s selber verschuldet hätten; und das ist’s, was sie ganz in Verzweiflung bringen will. Begreiflich ist es wohl, dass so das Unglück besonders schwer auf dem Menschen liegt, zumal dieser immer so gerne der Unschuldige wäre, der zum lieben Gott sagen könnte: „Warum schlägst Du mich so, der ich doch so brav bin?“ Aber vergessen wir’s nicht, dass wir Gnadenkinder sein und als Gnadenkinder uns fühlen müssen. Darum lässt’s Gott oft recht herausgestellt werden, wer wir sind, damit wir um Gnade schreien lernen. Wenn Er aber unsere Sünde heimsucht, so dürfen wir darüber, dass wir selbst schuld an
allem sind, die Hoffnung nicht aufgeben; und auch wenn wir fühlen, dass Gott zürne - und mit Recht zürne -, dürfen wir nicht denken, Er werde ewiglich zürnen und sei nicht mehr zu versöhnen. Wir dürfen uns dennoch an die Gnade anklammern.
Und es wird nach der Erfahrung dennoch geholfen, obwohl wir selbst schuld sind, wie es eben sein kann. überhaupt ist oft das, was wir bei Gott „Zorn“ nennen, lauter Liebe. Und zuletzt wird das Erbarmen Gottes - wenn auch anfangs langsam, doch immer mehr - so offenbar sein, dass nichts als Lob und Dank im Herzen übrig bleibt.
Dennoch Hilfe
Der Prophet spricht diese Worte in einem eigentümlichen Zusammenhang aus. Er versetzt sich in eine Zukunftszeit, da für das Volk Gottes der Himmel wie verschlossen sein und da Gott sich gar verborgen haben würde, ohne auf das Bitten und Flehen Seiner Kinder zu amten. Man erinnere sich, wie unmittelbar sich einst der HErr Seinem Volk bezeigt hatte! Da seufzt der Prophet (Jes. 64, 1): „Ach, dass Du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor Dir zerflössen!“ Dabei hält er dem HErrn vor, dass Er doch in früheren Zeiten, auch wenn Er zornig gewesen sei, Sich doch habe erweichen lassen und dennoch geholfen habe. „Warum“, sagt er (64, 12) „willst Du jetzt so hart sein und schweigen und uns so sehr niederschlagen?“ Und vorher hatte er gesagt (63, 17): „Warum lässt Du uns, HErr, irren von Deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir Dich nicht fürchten?“ So seufzt und betet der Prophet aus einer Zukunftszeit heraus, die kommen würde.
Wir wissen aber, wie Jesaja stets auf die messianischen Zeiten hin redet, und zwar nicht nur auf deren Anfang, sondern auch auf ihren Schluss, welcher die Vollendung bringt. Auf beides beziehen sich daher unsere Worte. Ehe Christus kam, war’s wirklich so, als ob Gott ganz ferne getreten wäre und als ob alles Flehen derer, die auf das Reich Gottes warteten, umsonst wäre. Aber endlich tat sich der Himmel auf und offenbarte sich der HErr in der verheißenen Herrlichkeit (in Christus).
In unserer Zeit aber ist’s wieder so geworden, dass der HErr in weiter Ferne zu stehen scheint, als ob Er vergessen oder aufgegeben hätte, das Angefangene zu vollenden. Man sieht Verfall und Schwachheit und übermacht der Finsternis von innen und außen in hohem Grade allenthalben; und das persönliche Sich-Bezeigen und Helfen Gottes scheint fast aufgehört zu haben. Da hat man Ursache wieder zu beten, wie es uns Jesaja auf solche Zeit hin in den Mund legt: „Warum lässt Du uns, HErr, irren auf unsern Wegen und unser Herz verstocken, dass wir Dich nicht suchen?“ Da liegt selbst in dem der Zorn Gottes verborgen, dass Er uns nicht den Geist der Buße und der Furcht sendet; dass Er also Kräfte zur Erneuerung der Herzen, wie sie uns so nötig wäre, gleichsam vorenthält. Ein Zorn Gottes aber ist es darum, weil uns der rechte Ernst und das rechte Verlangen nach Ihm und Seinen Erweisungen fehlt, wodurch die Gesamtschuld der Christenheit, des Volkes Gottes, groß geworden ist.
Sollen wir aber nun weitere Hoffnungen aufgeben? Nein, wir nehmen den Seufzer des Propheten als einen Wink, dass wir in ähnlicher Weise seufzen und beten sollen, weil dies der Weg zu etwas Besserem ist. Wir halten uns auch wie er an die geschichtlichen Tatsachen, dass Gott, „auch wenn Sein Volk sündigte und lange darin verblieben war, dennoch geholfen hat“. Der HErr kann nicht ewiglich Zorn halten, Er kann nicht - wenn Er auch noch so viele Ursachen dazu hätte - das Weitere, das verheißen ist, aufgeben. Wir können Ihn wieder herbeibeten, wie auch der Prophet endlich Antwort bekam (Jes. 65, 1ff.). Endlich wird Er’s wieder in die Hand nehmen, wird Er sich aufmachen und Seine Gnaden und Gnadengaben in Strömen kommen lassen über Sein verlassenes, verstörtes und weit verirrtes Volk - auf den Tag der letzten Offenbarungen hin. (Christoph Blumhardt)