Das Volk, das Gerechtigkeit schon getan hat.

Mancher denkt in seinem Sinn, wenn er das Wort von der Buße hört: „Was fehlt mir noch? Ich bin kein Übertreter und Sünder. Ich suche Gott zu gefallen, lese und höre sein Wort, gehe zu seinem Haus und Altar, habe auch stets Gerechtigkeit getan und das Recht meines Gottes nicht verlassen. Was soll ich mehr tun? Warum sollte Gott mit mir nicht zufrieden sein? Warum beunruhigt man mich, als ob ich gleich dem Gottlosen erst noch der Buße bedürfte?“

Lieber, der du also denkst und dich zu dem Volke zählst, das Gerechtigkeit schon getan hat, bedenke einmal, was Jes. 58, 1 und 2. geschrieben steht. Da spricht Gott zu dem Propheten: „Rufe getrost; schone nicht, erhebe deine Stimme wie eine Posaune, und verkündige meinem Volk ihr Übertreten, und dem Haus Jakobs ihre Sünde. Sie suchen mich täglich und wollen meine Wege wissen, als ein Volk, das Gerechtigkeit schon getan, und das Recht ihres Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern mich zum Recht, und wollen mit ihrem Gott rechten.“ Merke darauf! Hier wird dem Propheten geboten, Übertretung und Sünde einem Volte zu verkündigen, dem Gott gleichwohl das Zeugnis gibt: „Sie suchen mich täglich und wollen meine Wege wissen.“ Es war dieses Volk also nicht so gottlos, dass man von ihm hätte sagen können: „Dieses gottlose Volk ist so stolz und zornig, dass es nach niemand fragt, in allen seinen Tücken hält es Gott für nichts.“ Nein, es suchte Gott, es fragte nach ihm, und zwar nicht bloß am Sabbat und an den Festtagen, sondern es suchte ihn täglich, fand sich alle Tage zum Gottesdienst ein und stellte sich so, als wollte es Gottes Wege wissen, als wäre ihm an der Erkenntnis Gottes und seines Willens viel gelegen. Gottes Haus, Gottes Wort, Gottes Altar, Gottes-Verehrung und Gottes-Dienst waren ihm durchaus nicht gleichgültige Dinge. Es hielt darauf, als auf etwas Gutes und Heilsames. Aber dennoch wurde dem Propheten von Gott befohlen, diesem Volke ihr Übertreten und ihre Sünde zu verkündigen Denn es stellte sich gegen Gott als das Volk, das Gerechtigkeit schon getan und das Recht ihres Gottes nicht verlassen hätte; es war ohne Selbst, und Sündenerkenntnis, ohne göttliche Traurigkeit und demütiges Verlangen nach Gottes Gnade; ja, es wollte ein Recht an Gott haben, forderte als Recht, was nur den Demütigen als Gnade gegeben wird; es wollte seine Gerechtigkeit vor dem geltend machen, vor dem doch kein Lebendiger gerecht ist; und gerade in dem Sinn, worin es sich selbst so wohl gefiel, war es dem Herrn höchst missfällig, dass er es schalt und sprach: „Sie fordern mich zum Recht, und wollen mit ihrem Gott rechten.“ Siehe da das Volk, das Gerechtigkeit schon getan hat, nämlich nach seinem verkehrten Sinn! Es wäre dir nicht gut, wenn du dazu gehörtest. Bitte den Herrn, dass er dich durch seinen heiligen Geist erleuchte, nicht mehr von dir zu halten, als geschrieben steht. Es steht aber geschrieben: „Sie sind Sünder allzumal und mangeln des Ruhmes, den sie an Gott haben sollten.“ Und weiter, für diejenigen, die den Herr täglich suchen und seine Wege wissen wollen als ein Volk, das Gerechtigkeit nicht getan und das Recht seines Gottes verlassen hat, steht geschrieben: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ (Carl Philipp Johann Spitta)