Hohelied 5,2
Andachten
Ich schlafe, aber mein Herz wacht.
Kann man auch zugleich wachen und doch schlafen, oder schlafen und doch wachen? Wenn du zwar frühe aufstehst, und hernach lange sitzt, und isst dein Brot mit Sorgen; ja arbeitest mit Kopf und Händen Tag und Nacht für deines Leibes Notdurft und Nahrung, oder für deinen zeitlichen Wohlstand und Reichtum; bekümmerst dich aber weder um den Schaden noch um das Heil deiner Seele, machst dir gar keine Gedanken über das, was du vor Gott bist und sein sollst, oder machst dir eitle und vergebliche Gedanken darüber, die nach dem Wort Gottes nicht wahr sind: so bist du ein Mensch, der leiblich wacht und geistlich schläft. Höre, ich habe Gottes Wort an dich! „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten“ (Ephes. 5,14.). Lass dein Herz aufwachen, wie jener Israeliten Herz aufwachte durch das Wort von dem gekreuzigten Herrn und Christ, dass sie zu Petro und den andern Aposteln sprachen: „Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?“ Lass dein Herz aufwachen, wie Sauls Herz aufwachte, dass er mit Zittern und Jagen sprach: „Herr, was willst du, das ich tun soll?“ Lass dein Herz aufwachen, wie das Herz jenes Kerkermeisters aufwachte, dass er zu den gefangenen Aposteln sprach: „Liebe Herrn, was soll ich tun, dass ich selig werde?“ Auf die Frage deines erwachten Herzens wird dir geantwortet werden. Der Herr hat dafür gesorgt, dass dir Antwort auf deine Frage, Licht in deiner Finsternis, Rat in deiner Verlegenheit, Trost in deiner Traurigkeit, Hilfe in deiner Not werde. Mit der Frage im Herzen: „was soll ich tun, dass ich selig werde?“ lies sein Evangelium, höre die Predigt desselben, und bete zu ihm. Er wird dir geben, was dein Herz wünscht. Wohl dir, du hast es gut, wenn du nicht mehr geistlich schläfst und unter den geistlich Toten liegst. - Aber wer ist ein solcher, der, obschon er schläft, doch wacht; wie die Braut spricht, Hohes Lied Sal. 5,2: „Ich schlafe, aber mein Herz wacht!?“ Wenn die Liebe Gottes ausgegossen ist in unser Herz durch den Heiligen Geist, die Liebe nämlich, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, und Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren; wenn das Herz durch gläubige Aneignung in Erfahrung und Genuss dieser Liebe steht; wenn das Herz von dem gewonnen, eingenommen und hingenommen ist, der uns geliebt und sich selbst für uns dar gegeben hat - dann wacht der Mensch auch für den Freund der Seele. Er ist von ganzem Herzen an ihm, sowohl im leiblichen Wachen als im leiblichen Schlafen. Er verrichtet sein zeitliches Geschäft; aber sein Herz wacht und erinnert ihn, dass er es tue, nach des Herrn Wohlgefallen. Er muss als ein treuer Arbeiter oft alle Kräfte seiner Seele oder seines Leibes auf seine Arbeit richten, er kann oft nicht dazwischen hinein gottselige Gedanken hegen, und bei seinen Betrachtungen verweilen; aber sein Herz wacht, und sobald er von der Arbeit zur Ruhe, von der Zerstreuung äußerlicher Tätigkeit wieder zu sich selbst kommt, so kommt er wieder zum Herrn, da wo sein Herz ist. Er schläft, aber gleichwohl heißt es: „Von Herzen begehre ich dein des Nachts, dazu mit meinem Geist wache ich frühe zu dir“ (Jes. 26,9.). Hast du ein zu dem Herrn gerichtetes wachendes Herz? Bete darum mit mir, dass wir nicht schlafen wie die anderen, deren Herz noch nicht aufgewacht ist, die Christus noch nicht erleuchtet und mit Licht, Liebe und Leben erfüllt hat. Denn die Leuchte des Herrn ist des Menschen Odem, die geht durchs ganze Herz (Spr. Sal. 20,27.). Ja, er gebe es uns, mit bräutlich liebendem Herzen so zu ihm zu stehen, dass wir sagen können: „Ich schlafe, aber mein Herz wacht. Da ist die Stimme meines Freundes, der anklopft!“ (Carl Philipp Johann Spitta)
“Ich schlafe, aber mein Herz wacht.“
Scheinbare Widersprüche sind in der Christenerfahrung sehr zahlreich, und hier ist ein solcher: die Braut schlief, und doch war sie wach. Nur der kann dies Rätsel des Glaubens treffen, der mit dem Kalbe der Erfahrung pflügt. Die beiden Hauptpunkte in unsrer heutigen Schriftstelle sind: eine traurige Schläfrigkeit und eine hoffnungsvolle Wachsamkeit. Ich schlafe. Durch die Sünde, die in uns wohnt, können wir in Erfüllung unsrer heiligen Pflichten lässig gemacht werden, träge zu geistlichen Übungen, unempfänglich für himmlische Freuden, und ganz und gar sorglos und gleichgültig. Das ist ein schmählicher Zustand für jemand, in dem der lebendigmachende Geist wohnt, und er ist gefährlich im höchsten Grade. Selbst die klugen Jungfrauen schlafen zeitweise, aber es ist hohe Zeit für alle, die Bande der Trägheit abzustreifen. Es steht zu fürchten, dass viele Gläubige ihre Kraft verlieren, wie Simson seine Locken verlor, während sie auf dem Schoß der fleischlichen Sicherheit schlafen. Schlafen, während die uns umgebende Welt ins Verderben stürzt, ist entsetzlich; es ist Wahnsinn, wo die Ewigkeit so nahe ist. Dennoch ist keiner unter uns so wachsam, als er sollte; ein paar Donnerschläge würden uns treffliche Dienste leisten, und wenn wir uns nicht bald aufraffen, werden wir sie vielleicht bald zu hören bekommen unter der Gestalt des Krieges, der Pestilenz oder persönlicher Verluste und Heimsuchungen. Ach, dass wir uns doch für immer vom Lager weichlicher Behaglichkeit erhöben und auszögen mit brennenden Fackeln dem kommenden Bräutigam entgegen! Mein Herz wacht. Das ist ein seliges Zeichen. Das Leben ist nicht erloschen, obgleich tief herabgestimmt. Wenn unser erneuertes Herz wider unsre natürliche Trägheit ankämpft, so sollten wir der unumschränkten Gnade dankbar sein, dass sie in dem Leibe dieses Todes etwas Leben wach erhalten hat. Jesus will auf unsre Herzen hören, will unsren Herzen helfen, will unsre Herzen besuchen; denn die Stimme des wachsamen Herzens ist wahrlich die Stimme unsers Freundes, der da spricht: „Tue mir auf!“ Heilige Sehnsucht hilft mir gewiss die Riegel von der Tür zurückschieben.
„Schaff‘ in mir, Herr, den neuen Geist,
Der Dir mit Lust Gehorsam leist‘.“ (Charles Haddon Spurgeon)