Alle Bitterkeit und Lästerung sei ferne von euch. Seid untereinander freundlich und herzlich und vergebt Einer dem andern, gleichwie Gott euch vergeben hat in Christo.
Vergebt einer dem Andern. Und wie geschieht das? So zuerst, dass wir seine Fehler und Versehen absichtlich übersehen, schweigend darüber hinweggehen und sie zudecken mit der Liebe. Jeder hat ja seine Eigenheiten, besondere Härten in seiner Natur, und Jeder unter uns wird von einem Tag zum andern von diesen Eigenheiten des Nächsten verletzt und gehemmt. Wollten wir für sie jedes Mal Rechenschaft fordern, wollten wir für jedes heftige Wort um Verzeihung gebeten werden, so würde das gemeinsame Leben unmöglich, ja unerträglich werden. Wir kämen aus den Klagen nicht heraus, wollten wir alles auf die Goldwaage legen. Das ist vielmehr die rechte Christenkunst, dass wir nicht aus Schwäche, sondern in der Kraft der Liebe hier und dort die Augen schließen und absichtlich übersehen, was Einer etwa wider uns getan. Das ist das rechte Vergeben, ohne mit Worten das Geschehene zu berühren, das alte Vertrauen unverändert beweisen, und so reden und handeln, als wäre nichts geschehen, wie dort der Herr dem Jünger, als hätte er ihn nie erlebt, mit dem Wort entgegentrat: „Simon Johanna, hast du mich lieb? weide meine Schafe.“ Dahin aber kommen wir, wenn wir ein offenes Auge für das Gute an den Menschen haben. Dies Gute im Bösen suchen und sehen, das heißt vergeben. Nicht aus Schwäche, sondern in der göttlichen Liebe und Reinheit, die das Gute sucht und liebt, wo sie es findet; die, weil sie es selber im Bergen trägt, ein scharfes Auge dafür hat, auch im Schlechtesten noch. Nur wer selber innerlich rein und göttlich ist, nur der kann Milde üben gegen Andre. (Adolf Clemen)