Dass Christus in euch eine Gestalt gewinne!
Der Apostel Paulus hatte den Galatern das Evangelium von Christo mit solchem Erfolge gepredigt, dass ihr ganzes Leben, ihre Gesinnung und ihr Wandel sich neu, sich christlich gestaltet, oder Christus in ihnen eine Gestalt gewonnen hatte. Aber sie waren durch Verführung von der Wahrheit abgekommen, und da war die Gestaltung ihres Herzens, Sinnes und Wandels nach Christo wieder rückgängig geworden. Mit großem Schmerz darüber suchte sie nun der Apostel durch ein ernstes, strafendes und zurechtweisendes Wort wieder herum zu holen, und schrieb ihnen Gal. 4,19: „Meine lieben Kinder, welche ich abermal mit Aengsten gebäre, bis dass Christus in euch eine Gestalt gewinne.“ Was er hier redet mit Worten, welche der heilige Geist lehrt, das macht uns eine große Wahrheit einmal recht anschaulich. In dem sich selbst überlassenen Menschen gewinnt der alte Adam, die sündliche Verdorbenheit der menschlichen Natur, mit welcher wir geboren werden, je mehr und mehr eine Gestalt. Alles, was vom Fleisch geboren ist, ist und bleibt Fleisch. Alle Menschen tragen von Natur das Bild des irdischen Menschen, sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie an Gott haben sollen. Wenn aber ein Mensch durch Wirkung des heiligen Geistes an Jesum Christum gläubig wird, so gewinnt Christus in solchem Menschen je mehr und mehr eine Gestalt. Das sündliche Leben wird durch den Christum, an welchem der Mensch in herzlicher Liebe und Hingabe hängt, umgestaltet und christlich gestaltet; ein christlicher Sinn und Wandel kommt immer bestimmter und deutlicher zum Vorschein, und die Menschen werden gleich dem Ebenbilde des Sohnes Gottes, auf dass derselbige der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Dass aber das geschehe, dazu musste der Sohn Gottes Mensch werden, uns in allen Stücken gleich, doch ohne Sünde. Denn dadurch, dass in JEsu das Göttliche eine Gestalt gewonnen hat, dass nun in ihm die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt, dass Gott offenbart ist im Fleisch - ist uns das Göttliche nahe und das Unerreichbare erreichbar geworden; in solcher Gestalt können wir es durch Glauben aufnehmen und in Liebe umfassen. So gebe uns Gott denn Kraft nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, und Christum zu wohnen durch den Glauben in unsern Herzen, und durch die Liebe eingewurzelt und gegründet zu werden, damit der, auf den unser Glaube traut und an dem unsere Liebe hängt, unser ganzes Leben neugestalte, und wir in sein Bild verklärt werden von einer Klarheit zu der andern! (Carl Johann Philipp Spitta)
Meine lieben Kinder, welche ich abermals mit Ängsten gebäre, bis dass Christus in euch Gestalt gewinne.
Wir Menschen können nicht miteinander verkehren, ohne dass wir uns aneinander anpassen und das Bild des einen dank des anderen ähnlich wird. Das macht unseren Verkehr miteinander gefährlich, so dass er uns oft schweren Schaden zufügt. Darum will ich auf Paulus achten. Er hat zwischen sich und den Galatern die innigste Berührung hergestellt. Aus seinem Herzen heraus strömt sein Wort, damit es auch ihnen in ihr Herz hineingehe. Sein Brief war die Frucht angestrengter Arbeit und ein heißes Ringen um die Einigung mit ihnen. Darum vergleicht er sein Schreiben mit der Anstrengung, die die Mutter leisten muss, damit das Kind den Weg ins Freie finde. Dabei ist aber nicht das sein Ziel, dass sein eigenes Bild in ihnen erscheine; denn er hat nur den einen Wunsch, dass Christus in ihnen Gestalt bekomme. Seine Gestalt erscheint an uns in dem Maße, als wir sein Werk sind. Das Werk ist immer ein Abbild dessen, der es macht, und dies hat die tiefste Wahrheit dann, wenn der Geist das Werk erzeugt. Indem Jesu Geist in uns wirksam wird, wird unser Wille durch seinen Willen bestimmt und dies gibt unserem Verhalten die Ähnlichkeit mit ihm. Paulus war nicht mehr imstande, im Verhalten der Galater den Christus wahrzunehmen. Denn wenn sie dem Gesetz dienen, weichen sie von Gottes Gnade und stützen sich auf das, was sie bei sich selber finden. Dadurch verschwindet Christus aus dem geistigen Antlitz der Gemeinde und darum bemüht sich Paulus um sie, damit Christus an ihnen wieder erkennbar sei. Damit hat er uns allen das Ziel für jeden Verkehr gezeigt, in den wir miteinander treten.
Ein Bild, Vater, gibt es, das Dir wohlgefällt und durch das wir zu Deinem Bild werden. Das ist das Bild Deines einigen Sohnes. Ihn gabst Du uns, damit wir Sein Bild empfangen, einst im Licht Deines ewigen Reichs, jetzt in der Übung des Glaubens, der Dein Wort bewahrt. So wollest Du mir in Deiner Gnade geben, dass Dein Name in meinem Munde nicht unkräftig und Dein Bild in meinem Leben nicht verdunkelt sei. Amen. (Adolf Schlatter)
„Meine Kindlein“, sagt Paulus, „die ich von neuem mit Ängsten gebäre, bis dass Christus in euch eine Gestalt gewinne.“ Unsere Heiligkeit, das sind eigentlich nicht wir, als wenn wir uns völlig änderten und besser würden - denn nach fünfzig Jahren treuer Arbeit könnte es uns begegnen, dass wir uns plötzlich wieder so schlecht fänden, wie ein halbes Jahrhundert vorher - vielmehr er ist es, wie er in uns geboren wird und zunimmt, so dass er unser Herz erfüllt und allmählich unser natürliches Ich, unseren alten Menschen verbannt, der seinerseits sich nie bessert und nichts besseres tun kann als sterben.
Wie bewerkstelligt sich nun in der Praxis diese Art von Menschwerdung, durch die Christus selbst unser neues Ich wird? Durch ein freies und moralisches Verfahren, welches Jesus beschrieben hat in einem Worte, das uns in Erstaunen setzt, weil es seine Heiligkeit fast auf denselben Fuß setzt wie die unsrige: „Wie der lebendige Vater mich gesandt hat und ich lebe durch den Vater, so wird, wer mich isst, auch leben durch mich.“ (Joh. 6,57). Jesus nährte sich vom Vater, der ihn gesandt hatte, und lebte durch ihn. Das bedeutet ohne Zweifel, dass er jedesmal, wenn er handeln oder reden sollte, zuerst sich selbst stille war, dann ließ er den Vater wollen, denken, handeln, alles in ihm sein. Auf dieselbe Weise, wenn wir berufen sind, eine Handlung zu verrichten oder ein Wort zu reden, sollen wir uns zuerst selbst Jesu gegenüber aufgeben, und nachdem wir mit energischer Glaubenstat jeden eigenen Wunsch, jeden eigenen Gedanken, jede eigene Tätigkeit in uns unterdrückt haben, Jesus seinen Willen, seine Weisheit, seine Kraft in uns entfalten lassen. So leben wir durch ihn, wie er lebte durch den Vater; so essen wir ihn (das ist das Wort, dessen er sich bedient), wie er sich vom Vater nährte. Jesu Verfahren und das unsrige sind gleichartig. Nur bezog sich dasjenige Jesu direkt auf den Vater, weil er als der ewige Gottessohn mit ihm in direkter Gemeinschaft stand, während das unsrige auf Jesus geht; weil mit ihm der Gläubige unmittelbar in Verbindung steht und wir allein durch ihn den lebendigen Vater finden und besitzen. - Das ist das im allgemeinen so wenig verstandene Geheimnis der christlichen Heiligung. (Frederik Godet)