Luk. 11,3: „Gib uns heute unser tägliches Brot.“
Was für ein Brot ist das, mein Gott? Es ist nicht nur der Unterhalt, welchen deine Vorsehung uns für die Notdurft des Lebens gibt; es ist auch noch die geistliche Speise der Wahrheit, die du jeden Tag der Seele gibst. Es ist ein Brot, das uns für das ewige Leben Speise gibt, das uns Wachstum verleiht und die Seele in den Glaubensprüfungen stark macht. Du gibst es jeden Tag wieder neu; du gibst nach innen und außen gerade das, was die Seele braucht, um sich zu fördern in dem Leben des Glaubens und in der Selbstverleugnung. Ich habe also nur dies Brot zu essen und nur mit opferwilligem Sinn alles anzunehmen, was du mir in meinem äußeren Leben und im Innern meines Herzens Bitteres zu tragen gibst. Denn alles, was mir im Lauf des Tages widerfährt, ist mein tägliches Brot, vorausgesetzt, dass ich mich nicht weigere, es aus deiner Hand zu nehmen, und für mich Kraft daraus zu ziehen.
Der Hunger verleiht den Speisen den Geschmack und lehrt uns ihren Nutzen. Warum haben wir nicht Hunger und Durst nach der nach der Gerechtigkeit? Warum sind unsere Seelen nicht hungrig und durstig, wie unsere Körper? Ein Mensch, der der Speise überdrüssig geworden ist und sie nicht zu sich nehmen kann, ist krank. Ebenso siecht unsere Seele dahin und sucht weder, dass sie sich sättige, noch dass sie die Speise empfange, die von Gott kommt. Die Speise der Seele ist die Wahrheit und die Gerechtigkeit. Das Gute erkennen, davon erfüllt werden, darin fest werden, das ist das geistliche Brot, das himmlische das wir essen sollen. Lasst uns doch davon essen und Hunger danach haben! Lasst uns vor Gott wie bettelnde Arme sein, die ein wenig Brot erwarten! Unsere Schwäche und unsere Ohnmacht lasst uns empfinden, wehe, wenn wir die Empfindung dafür verlieren! Lesen wir, beten wir, mit jenem Hunger unsere Seelen zu nähren, mit jenem brennenden Durst uns zu erquicken an dem Wasser, dessen Quelle bis in den Himmel sich ergießt. Wir sollen nur die eine hohe und dauernde Sehnsucht nach der Unterweisung haben, die uns würdig macht, die Wunder des Gesetzes Gottes zu entdecken. Jeder empfängt jenes heilige Brot nach dem Maße seines Verlangens, und dadurch macht man sich bereit, oft und in würdiger Weise das wahrhaftige Brot des Abendmahls nicht nur körperlich (äußerlich), wie es viele tun, sondern in dem Geiste zu empfangen, der das Leben bewahrt und vermehrt. (François Fénelon)