Und dieweil die Ungerechtigkeit wird überhand nehmen, wird die Liebe in Vielen erkalten.
Jeder einzelne Mensch hat einen unbeschreiblich hohen Wert. In jedem Menschen sind göttliche Kräfte und Anlagen; Jeder hat einen Funken des ewigen Lebens in sich; die Natur eines jeden weist auf eine ewige Bestimmung hin; in jedem Menschen ist eine kleine Welt, und was er in dieser Welt lebt, das hat seine Beziehung auf die Ewigkeit, eine ewige Bedeutung. Wenn ein Mensch aus diesem Leben hinausstirbt, so ist es, wie wenn die ganze Welt ihm stärbe; und wenn ein Mensch in diese Welt hereingeboren wird, so wird ihm, dass ich mich so ausdrücke, die Welt geboren; denn sie wäre für ihn nicht da, wenn er nicht geboren würde. Darum sage ich: eine jede einzelne Menschenseele hat, für sich betrachtet, einen unbeschreiblich hohen, göttlichen, ewigen Wert und Bedeutung. Es besteht jede Seele für sich; wenn die ganze Welt glücklich ist und du bist unglücklich, – was hast du davon? Ist dir dann nicht die ganze Welt unglücklich, weil du es bist? Wenn die ganze Welt selig wäre und ich würde in die Hölle geworfen: was hätte ich von der Seligkeit des Anderen? Ich, ich, d. h. mein Alles, wäre eben unselig.
Diese tiefe Wahrheit aber, welche uns so stark zur Wertschätzung eines jeden unserer Mitmenschen auffordert, wird in der Welt oder von der Welt wenig oder nicht geachtet. In der Welt pflegt man Alles so ins Große und Ganze zu nehmen; auf das Einzelne, Unscheinbare nimmt man fast nicht Bedacht, das lässt man so ins Allgemeine verschwimmen und sich darin verlieren, als ob es keinen Wert hätte. Man führt Kriege, wo die Menschen zu Tausenden umkommen, und nur, wenn der Verlust an Toten sich auf viele Tausende ers streckt, hält man ihn für einen namhaften Verlust. Man ist, zur Schande dieses Zeitalters muss es gesagt werden, nicht zufrieden, wenn die öffentlichen Nachrichten nur von etlichen, oder gar nur von Einem schreiben, der in diesem oder jenem Treffen geblieben sei; das, meint man, sei ja gar nicht der Mühe wert, dass man davon rede und schreibe, das verlohne sich ja nicht, gelesen zu werden. Lieber! wenn ein Mensch stirbt, stirbt denn da nicht die ganze Welt für ihn? Ist der Verlust eines lebens und einer Welt nicht ein unberechenbarer Verlust, - wenn auch nicht für dich, doch für ihn, für ihn, der sterben muss? Aber dies ist's gerade, was der Heiland gesagt hat: „die Liebe wird in Vielen erkalten.“ Wenn die einzelne Seele nicht mehr in Anschlag genommen wird, sondern wenn man nach Haufen, nach Hunderten und Tausenden zu rechnen anfängt, und gegen Hunderte und Tausende, die unglücklich werden, erst kein Mitleiden hat, weil man keines mit dem Einzelnen hat: dann ist ja die Liebe kalt, dann sind die Herzen fühllos und erbarmungslos geworden! Man hört von einem bes deutenden Unglücksfall, der da oder dort sich ereignet habe. Der Vornehme fragt: „was ist's für ein Mensch, dem dieses Unglück widerfahren ist?“ Man antwortet: „es ist der und der, von niedriger Herkunft, ein Taglöhner, ein Armer,“ - nun heißt es: „nur ein solcher?“; und dann schlägt man sichs aus dem Sinn. So macht es der Reiche gegen den Armen, der Gelehrte gegen den Ungelehrten, der Gebildete gegen den Ungebildeten; nicht Alle, Gottlob nicht Alle, aber Viele, die keine Liebe haben, und deren sind leider Viele. (Ludwig Hofacker)