“Er gibt den Weisen ihre Weisheit und den Verständigen ihren Verstand.“
Das sagt Daniel in einem Lobgesang, als er über einen Traum, den Nebukadnezar gehabt haben wollte, Aufschluss von Gott bekam. Der König hatte nicht nur die Auslegung eines Traums wissen wollen, sondern auch den Traum selbst, weil er ihn vergessen hatte. Alle Traumdeuter waren ratlos und standen in Gefahr, durch den gestrengen König das Leben zu verlieren. Da erbat sich Daniel vom Könige Frist in der Hoffnung, der HErr werde ihm das Nötige offenbaren. Daniel stellte sich dabei auf den rechten Standpunkt, indem er überzeugt war, dass Gott Der sei, der den Weisen ihre Weisheit und den Verständigen ihren Verstand gebe. Er dachte nicht, dass er's von sich aus finden müsste, er meinte auch nicht, dass überhaupt ein Mensch von sich aus etwas haben könne. Sondern er hielt sich an den HErrn, der sich wohl insbesondere dann den Einfältigen offenbaren werde, wenn so vieler Leben daran hing. So betete er und erwartete er den Aufschluss vom HErrn. Die Anderen hatten nicht so gedacht und Ausflucht gesucht; und als diese beim König nichts half, waren sie in Verzweiflung. Daniel hatte wohl bei sich gedacht: Wenn Gott sich dem König zu erkennen gab und ihm hat etwas Besonderes sagen wollen, so wird's der nämliche Gott auch mir sagen! Sagt's Gott dem einen, so kann Er's, wenn's sein muss, denen nicht versagen, die Ihn anrufen und die in einem besonderen Verkehr mit Ihm stehen, wie's bei mir der Fall ist! In diesem kindlichen Glauben stand Daniel. Und wie er dachte, so geschah es denn auch. „Es wurde ihm das verborgene Ding durch ein Gesicht des Nachts geoffenbart.“ Nun dankt er Gott und preist Ihn dafür, dass Er die Weisheit und den Verstand gebe.
Wenn Daniel in seinem Lobgesang sagt: „Er gibt den Weisen ihre Weisheit“, so will er damit sagen: „Was die Weisen weise sind, das haben sie von Gott; und was die Verständigen verständig sind, das hat ihnen Gott gegeben.“ Wie gut wäre es doch, wenn alle Weisen und Verständigen sich das merken würden, so dass sie immer sagen möchten: „Ich hab's von Gott.“ Bei ihnen aber ist's gewöhnlich, dass sie, auch wenn sie es nicht immer sagen, doch denken: „Ich bin der Weise, ich bin der Kluge! über mich geht keiner!“ Nicht entfernt will es ihnen einfallen zu denken, dass das, was sie haben, von Gott komme. Sie überheben sich ihrer Weisheit und nehmen an ihr Anlass zu Stolz und Hochmut und verächtlicher Behandlung anderer. Damit aber versündigen sie sich sehr, besonders, wenn sie's andere entgelten lassen, dass sie weniger Einsicht, Geschicklichkeit, Tüchtigkeit haben als sie. Solche Weisen und Klugen lässt aber Gott oft recht zu Narren werden. Denn eben sie sind's oft, die, wie man sagt, recht törichte Streiche machen können, so dass jedermann sich darob verwundert und sie sich recht offenbar schämen müssen. Oft lässt ihnen Gott auch das künstlichst Angelegte ganz und gar misslingen, so dass andere mit ihrer scheinbar geringen Begabung viel weiter kommen denn sie. „Denn Gott widersteht den Hoffärtigen, den Demütigen gibt Er Gnade.“
Rühmen wir uns doch keines Wissens und keiner Kunst! Denn der HErr hat es alles gegeben, was es auch betreffe, selbst in äußerer Geschicklichkeit. So hatte Gott einst auch beim Bau der Stiftshütte „den Bezaleel erfüllt mit Seinem Geist, mit Weisheit und Verstand und Erkenntnis und mit allerlei Werk, kunstreich zu arbeiten an Gold, Silber, Erz, kunstreich Steine zu schneiden und einzusetzen, kunstreich zu zimmern am Holz, zu machen allerlei Werk“ (2. Mose 31, 3f.) Wie hässlich ist es doch da, über andere zu spotten und zu lachen oder sie geringschätzig zu behandeln, wenn sie an Einsicht, Verstand und Geschicklichkeit zurückstehen!
„Denn wer hat dich vorgezogen? Was hast du aber, das du nicht empfangen hast? So du es aber empfangen hast, was rühmst du dich denn, als hättest du es nicht empfangen (, sondern selbst erworben)?“
Zusatz - zu Daniel 2,21 „Nebukadnezars Traum“
In der Geschichte, aus welcher der Spruch genommen ist, erscheint es sehr auffallend, wie Nebukadnezar dazukommen konnte, von seinen Sternsehern und Weisen es zu fordern, dass sie ihm den Traum - den er gehabt und wieder vergessen hatte - sagen sollten, und zwar selbst bei Todesstrafe es von ihnen zu fordern. Es sieht einer entsetzlichen Brutalität und unerhörten Tyrannei gleich.
Wenn man aber die Sache näher untersucht, so war seine Forderung nicht so ungereimt und unvernünftig, als es im ersten Augenblick aussieht. Denn die Sternseher und Weisen behaupteten, dass sie alles, was sie wissen, aus einer (höheren) Eingebung wissen. Nun hatte der König den Eindruck, dass sein Traum etwas sehr Bedeutsames enthielt; Gott hatte ihm diesen Traum entfallen lassen, damit er keine verkehrte Auslegung bekäme. Der König musste also (aufgrund der Behauptung seiner Sternseher) die Voraussetzung haben, dass die Götter sich wirklich seinen Weisen offenbaren. Er forderte demnach nicht zu viel, wenn er erwartete, dass die Götter das, was sie ihn selbst hatten sehen lassen, auch seinen Weisen zeigen werden. Er konnte denken, dass alle ihre Sache nichts sei, wenn sie diesen Traum nicht wissen, und dass er dann alles Recht habe, sie überhaupt als Betrüger anzusehen. Warum sollten denn jetzt auf einmal die Götter sich dem König offenbaren - und nicht denen, die eigentlich berufsweise in solchen Sachen stehen?
Die Weisen sagen's dem König rundweg ab, dass so etwas gefordert werden könne, weil niemand das wisse, ausgenommen die Götter, welche nicht bei den Menschen wohnen. Ein solches Benehmen konnte den König nur noch mehr erzürnen, weil eben damit all ihre Wahrsagerei als eine nichtige gerichtet wurde. Darum sagt er zu ihnen: „Das Recht geht über euch als die ihr Lüge und Gedicht vor mir zu reden vorgenommen habt, bis die Zeit vorübergeht (bis die Zeiten und Verhältnisse sich ändern).“ Der König findet's sogar ganz recht, dass er den Traum vergessen habe. Denn, so sagt er, wenn sie dennoch den Traum von sich aus wüssten, so könne er merken, dass sie auch die Deutung richtig treffen. Andernfalls könnten sie ihm ja vorsagen, was sie wollten - wie er sie wahrscheinlich längst im Verdacht hatte. Wenn also wirklich Gott oder die Götter sich ihnen offenbaren würden - auf welche Weise das auch nach den Gedanken des Königs geschehen mochte -, so hätten sie überhaupt ein gutes Gewissen gehabt und wäre ihre Sache eine rechte gewesen. Dann hätten sie es zumindest so machen sollen wie Daniel, der nur um Frist bittet, bis es Gott ihm sage. Die Weisen aber konnten auch von einer Frist nichts erhoffen, weil ja, wie sie sagen, die Götter nicht bei den Menschen wohnen. Dagegen konnte der König mit Recht erwarten, dass sie vermittelst desselben Gottes, der ihm den Traum gegeben hatte, sollten ihm wieder auf den Traum verhelfen können. Denn sie rühmten sich ja auch sonst der göttlichen Eingebung! Sie waren in eine Falle gekommen, bei der ihre Betrügerei offenbar wurde. In der Forderung des Königs liegt also viel mehr Vernunft als Unvernunft. Und wenn er, der unumschränkte König, sich von Betrügern frei erhalten will - kann es uns da verwundern, dass er sich solcher Leute durch Hinrichtung geradezu ganz entledigen wollte? So wurden auch einst auf Elias Anstiften die Baalspfaffen hingerichtet.
Der König dachte also (mit Recht): Was ihm geoffenbart wird, müssen seine Weisen auch wissen.
Wir möchten oft in dem umgekehrten Fall sein (, zu denken: Was einem andern geoffenbart wird, das müssen wir wissen). Da will sich dieser oder jener einer besonderen Offenbarung rühmen. Nun sollten wir auch denken: Was diesem oder jenem angeblich Gott gesagt hat, werde Er auch uns offenbaren! Geschieht das letztere aber nicht - so dass das Gesagte (, weil es keine Gottes-Offenbarung ist,) gar keinen Widerhall in unserem Geiste findet -, so ist die Anmaßung (dessen, der sich der Offenbarung rühmt,) und was mit ihr gefordert wird, entschieden zurückzuweisen.
Es kommt öfters vor, dass Leute Offenbarungen haben wollen, mit denen sie Anspruch auf Glauben machen. Darf man sie annehmen? Ist es Vernunft oder ist es Unvernunft, sie anzunehmen? Nehmen wir uns in acht und geben wir uns nicht so leicht- fertig Leuten hin, die etwas aus sich machen, als ob ihnen durch einen Traum oder ein Gesicht oder einen Geist eine Offenbarung zugekommen wäre! Solches kommt jetzt schon viel vor und mag in der kommenden Zeit noch viel häufiger vorkommen. Wie töricht aber ist es, auf Offenbarungen durch Somnambulen, durch Träumer, durch Hellseher zu bauen! Ja, unter Umständen: wie grauenhaft ist es! Was dir nicht Gott durch Sein Wort sagt und dir nicht selbst durch Seinen Geist nach Seinem Wort zu fühlen gibt, kannst und darfst du nimmermehr annehmen - wenn du nicht dem Aberglauben, dem Betrug, der Unvernunft überhaupt anheimfallen willst! Wer darauf Anspruch machen will, dass du ihm Glauben schenkst, weil's ihm geoffenbart sei, der ist ein gefährlicher Mensch für dich - und vor diesem fliehe!
Auch bei Nebukadnezar sieht man deutlich, dass es ihm gar recht ist, einmal der Weisheit seiner Weisen auf die Spur zu kommen. Denn es muss ihm längst zuwider gewesen sein, ihr ohne weiteres zu trauen, ohne in seinem eigenen Geiste irgendeinen Beweis dafür zu haben, dass sie mit der Wahrheit umgehen.
Und wir wollten jedem“ Träumer“ nur gleich zufallen? Es ist schon ein Übelstand, dass manche frommen Leute sagen, dieses oder jenes - worüber verschiedene Ansichten denkbar sind und obwalten - sei ihnen durch anhaltendes und ernstliches Gebet gewiss geworden. So sollte kein Christ reden; denn damit wird den Gewissen anderer in ungebührlicher Weise Zwang angelegt.
Dass man doch nur gleich ein Prophet sein will, mit dem Gott rede, und dem zu glauben sei, weil Gott mit ihm rede! (Christoph Blumhardt)