Ich suchte des Nachts, den meine Seele liebt, ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Ich will aufstehen, und in der Stadt umhergehen auf den Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht.
Selig ist eine Seele, die eine solche Sucherin des Heilandes ist, die von solchem Verlangen nach ihm brennet, dass sie Nacht und Tag nur ihn verlangt; die, wenn sie ihn nicht hat, nicht ruhig schlafen kann, sondern aufstehen und ihn in den Gassen und Straßen der Stadt Gottes, d. i. auf allen Wegen des innern Lebens, suchen muss. Das sind wohl die edelsten Seelen, die der Heiland so im Suchen übt, deren Augen so gehalten werden, dass sie ihn nicht sehen und nicht kennen, ob er gleich mit ihnen wandelt, die sonst seine süße Gemeinschaft gewohnt waren, aber nun lange Zeit des Trostes seiner Nähe nicht so oft und so bald, als sie es wünschen, teilhaft werden können, und dabei äußerlich mit Trübsal und innerlich mit Zweifel, Angst und Anfechtung geplagt sind. Je mehr er sich ihnen verbirgt, desto heißer wird ihr Verlangen nach ihm. Je weiter er sich von ihnen zu entfernen scheint, desto inniger suchen sie ihn. Denn sie wissen, es ist nur Prüfung ihrer Liebe, Bewährung ihres Glaubens; sie sind überzeugt: Er kann nicht im Ernste die Menschen verlassen, er kann keine Seele hassen, die ihn liebt, keine fliehen, die ihn sucht. Sein Fliehen will uns nur ziehen - tiefer in das Innere hinein zu dringen. Sein Entfernen soll uns nur ihm näher bringen, und das, was noch zwischen uns und ihm liegt, aus dem Wege räumen, die Scheidewand niederreißen und ihn uns auf ewig schenken. (Johannes Evangelista Gossner)
„Ich suchte, aber ich fand Ihn nicht.“
Sage mir, wo du die Gemeinschaft Christi verloren hast, so will ich dir sagen, wo du sie am leichtesten wieder findest. Hast du deinen Heiland im Kämmerlein verloren, als du im Gebet lässiger wurdest? Dann musst du Ihn dort auch wieder suchen und finden. Verlorst du den Herrn durch die Sünde, dann findest du Ihn nicht anders wieder, als wenn du die Sünde aufgibst und durch den Heiligen Geist das Glied, in welchem die Sündenlust wohnt, zu ertöten suchst. Hast du Christum verloren durch Gleichgültigkeit gegen sein heiliges Wort? Dann suche Christum in der Schrift. Es ist ein wahres Sprichwort: „Suche deine Sachen, wo du sie verloren hast.“ So suche deinen Freund, wo du Ihn verloren hast, denn Er ist nicht weggegangen. Aber es ist ein hartes Stück Arbeit, umkehren, um Christum zu suchen. Bunyan erzählt uns, der Pilger habe seinen Weg so beschwerlich und traurig gefunden, wie den zurück zur Laube der Erholung am Hügel Beschwerde, wo er seinen Brief verloren hatte. Fünf Stunden steigen, ist leichter, als eine Viertelstunde zurückgehen, um den verlorenen Pfad wieder zu suchen. Darum, wenn du deinen Herrn gefunden hast, so bleibe bei Ihm. Aber wie kommt‘s, dass du Ihn verloren hast? Man sollte denken, du hättest einen so unvergleichlichen Freund nie verlassen sollen, dessen Nähe so selig, dessen Rede so tröstlich, und dessen Umgang so erquickend ist! Warum hast du denn nicht jeden Augenblick auf Ihn geachtet, damit du Ihn nicht aus den Augen verlörest? Und doch ist‘s jetzt, da du Ihn verloren hast, eine große Gnade, dass du Ihn suchst, trotz deines bangen Seufzens: „Ach, dass ich wüsste, wo ich Ihn finden soll!“ Geh‘ und suche, denn es ist gefährlich, wenn du ohne deinen Herrn bist. Ohne Christum bist du wie ein Schaf ohne Hirt; wie ein Baum ohne tränkendes Wasser; wie ein welkes Blatt im Sturm, abgelöst vom Baum des Lebens. Suche Ihn von ganzem Herzen, so lässt Er sich von dir finden; nur biete alles auf, Ihn zu suchen, und du wirst Ihn wieder finden, zu deiner Freude und Wonne!
„Jesu, meine Freude,
Meines Herzens Weide,
Jesu, meine Zier!
Ach, wie lange, lange,
Ist dem Herzen bange,
Und verlangt nach Dir!“ (Charles Haddon Spurgeon)