1. Mose 45,1

Andachten

Da konnte sich Joseph nicht länger enthalten vor allen, die um ihn her standen, und er rief: Lasst jedermann von mir hinaus gehen. Und stand kein Mensch bei ihm da sich Joseph mit seinen Brüdern bekannte. Und er weinte laut, dass es die Äpypter und das Gesinde Pharao hörten; und sprach zu seinen Brüdern: Ich bin Joseph. Lebet mein Vater noch? Und seine Brüder konnten ihm nicht antworten, so erschraken sie vor seinem Angesicht. Er sprach aber zu seinen Brüdern: Tretet doch her zu mir. Und sie traten herzu. Und er sprach: Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr in Ägypten verkauft habt. Und nun bekümmert euch nicht und denkt nicht, dass ich darum zürne, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn um eures Lebens willen hat Gott mich vor euch hergesandt.
Joseph ist ein Abbild Jesu. Das ist das Lieblichste an dieser Josephs-Geschichte. Ein begnadigtes Herz liest sie und spricht: „So hat's ja grade mein Jesus mit mir gemacht und macht's noch heute so“. Was an Joseph seine Brüder Übel getan, ach, was ist's gegen das schnöde und schändliche Benehmen unsrer Seele gegen Jesum? Wir haben ihn mit unsern Sünden ans Kreuz gebracht!- Aber unser treuer Bruder Jesus hat sein Fleisch und Blut, ob's noch so ständig ist, brünstig lieb und hat sich's vorgenommen, es zu retten mit der Macht seiner brünstigen Liebe, die aber durch und durch eine heilige ist und darum strafen und sich sehr hart stellen muss, indem sie retten will. Ja, er muss ach, oft zur größten Plage und Pein für uns, aber auch für sein Herz, das längst schon danach brennt, uns wohl zú tun oft lange, schwere, mühsame Wege mit uns gehen, hin und her, wie Joseph mit seinen Brüdern: aus der Not zur Hilfe und aus der Hilfe in immer größere Not und Angst hinein; er muss sich gar vielmals verstellen, und wenn er's am besten mit uns meint, fremd sich halten und hart mit uns reden und uns fast allen Trost und alle Hoffnung abschneiden, wie davon auch das kananäische Weib ein Beispiel ist; ja, er muss es, sonst könnte er uns nachher sein Lieben nie entdecken und Gott Lob, er tut es und wird nicht müde; seine Liebe ist stark genug, um der Liebe willen auch das Liebesfeuer zurückzuhalten, bis seine heilsamen Zwecke nach und nach erreicht sind, dass wir zuerst aus der Tiefe mit Josephs Brüdern sagen: Was sollten wir uns rechtfertigen? Gott hat die Missetat seiner Knechte gefunden“; bis wir dann der Sünde Wurzel auch erkennen und bekennen: „Das haben wir an unserm Bruder Jesus, dem treusten Heiland, verschuldet, da wir sahen die Angst seiner Seele in Gethsemane und sein heißes Liebessehnen, da er uns flehte, dass wir in seine Arme kämen zu unserer Rettung, und wir wollten ihn nicht erhören, wir stießen seine Liebe gleichgültig zurück; darum kommt nun diese Trübsal über uns; darum sind wir in solcher Verdammnis!

O ja, bis wir endlich wie Juda auf Gnade und Ungnade uns vor ihm niederwerfen und uns ihm ergeben: „Herr, hier bin ich; ich, ich habe Zorn verdient, tue mit mir, wie dir's gefällt, nur erst siehe in meinen Jammer hinein und dann in dein Bruderherz, das im Tode brach, und dann verdamme mich, wenn du kannst“! Dann aber ist auch die Fessel gelöst, die Zurückhaltung hört auf, und Jesus kann sich dem sündigen Kinde offenbaren, wie er ist in seinem innersten Liebesherzen. Zuvor aber muss jedermann hinaus, auf den sonst das Herz noch hoffte; in des Herzens stillster Kammer, zwischen dem Sünderherzen und seinem Jesus allein, kommt's zum Erkennen. Da spricht er das große Evangelium aus: „Ich bin Jesus, dein Bruder, der ewige Gott vom Thron, der sich nicht schämt, dich Sünder Bruder zu heißen, dein Fleisch und Blut zu tragen und deinen ganzen Jammerstand und deine Sündenlast; der nun auch weiß, wie dir zu Mute ist in deiner Sünde; Jesus, dein Bruder, der für dich als Bürge eingetreten und deine Schuld gebüßt und alles gut gemacht hat“!

Ach, über solchem Evangelium und über seinem freundlichen Jesusauge erschrickt die sündige Seele mehr, denn zuvor, also dass sie kein Wort antworten kann. Das ist auch ganz in der Ordnung. Auch wenn die Liebe aus Jesu Herzen am heißten quillt, - es ist doch die heilige Liebe, die ernste, die nimmer schwarz weiß nennt, die gerade, wenn sie am seligsten erquicken will, mitten in das Evangelium hinein, damit es um so größer werde, hineintritt mit der Anklage des Gesetzes: „Ich bin Joseph, den du verkauft, verraten, mit Füßen getreten hast, auf dass auf deiner Seite sei alle Schuld und Schande und Verdammnis, und auf meiner alle Gnade und alles Erbarmen“! Begreifst du's aber ihm zur Ehre, dass seine Gnade allein dich rettet, so begreifst du auch, wie groß und herrlich sie ist; so hörst du mit Freuden sein: „Tretet doch her zu mir“, und wagst's und wirfst dich in seine Arme, und dein Kummer hat ein Ende!

Aber hast du Jesum, den Bruder, erkannt, einmal, so wisse: deine Lebenszeit ist nur dazu da, ihn täglich wieder in dieser brünstigen aber seligen Liebe zu erkennen, in fortlaufender Buße und im wachsenden Glauben, bis du ihn droben einmal erkennst, wie du von ihm erkannt bist. (Theobald Wunderling.)

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