O Herr voll Treu,
Schaff Dir uns neu,
Dass wir dem Zorn entgehen
Und nach dem Tod,
Frei aller Not,
Im Paradies Dich sehen. Amen.
Text: 1 Mose III., V. 22-24.
Und Gott der Herr sprach: Siehe, Adam ist worden als unser Einer, und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nicht ausstrecke seine Hand, und breche auch von dem Baum des Lebens, und esse, und lebe ewiglich, - da ließ ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er das Feld baute, davon er genommen ist. Und trieb Adam aus, und lagerte vor den Garten Eden den Cherubim mit einem bloßen hauenden Schwert, zu bewahren den Weg zu dem Baum des Lebens.
Wir stehen am Schluss unserer Betrachtungen über den Sündenfall. Es tritt ein, was wir von vornherein, so wie er begangen war, besorgen mussten, und worauf Adam selbst schon durch Gottes Strafrede vorbereitet war: Adam und Eva werden aus dem Paradies, dessen sie sich unwürdig gemacht und dessen längerer Besitz und Genuss ihnen von nun an nur hätte schädlich sein können, von Gott vertrieben. Damit endete der erste, seligste Abschnitt ihres Lebens und des Leben der Menschheit. Wir betrachten demnach heute am Ende des Kirchenjahres und der Trinitatiszeit die Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies, und zwar
„Und Gott der Herr sprach: Siehe, Adam ist geworden als unser Einer und weiß, was gut und böse ist“. Wunderbare, geheimnisvolle Rede Gottes: „Adam ist geworden als unser Einer“, mit dem Nachdruckwort: „Siehe“ eingeleitet, als riefe Er es voll Staunen und Verwunderung über die geschehene Umwandlung, frohbewegt, der ganzen Engelwelt zu, als wiese der Finger Gottes sie auf den Menschen hin, der nun ein merkwürdiges Schauspiel für Gott und die Engel geworden war. Durch den Zusatz: „Und weiß, was gut und böse ist“, scheint Gott angeben zu wollen, worin die durch den Fall entstandene Gottgleichheit vorzugsweise bestanden habe. Vorher wusste Adam nur, was gut war; jetzt weiß er auch, was böse ist. Vorher war seine Erkenntnis nur eine einseitige und beschränkte; jetzt hat sie sich erweitert: der Baum des Erkenntnisses Gutes und Böse hatte die Bedeutung seines Namens an ihm bewährt. Vorher war er abhängig gewesen von Gott; jetzt ist er selbstständig geworden, ist sein eigener Herr, und kann nicht nur unterscheiden, was gut und böse ist, sondern auch darüber entscheiden. Vorher war er Gott gehorsam gewesen; jetzt kann er Ihm auch widerstreben und tun, nicht bloß, was Gott, sondern auch, was er will. Vorher hatte er bloß das Wissen vom Leben, jetzt hat er auch das Wissen vom Tod erlangt, den er in sich trägt. Somit scheint der Sündenfall ein wesentlicher Fortschritt der Menschheit gewesen zu sein, und viele Gelehrte haben das auch behauptet und behaupten es bis auf diese Stunde, ein Fortschritt aus der Unmündigkeit in die Selbstständigkeit, aus der Unwissenheit zur Erkenntnis, aus der Abhängigkeit zur Freiheit, aus dem unbewussten Sein und Handeln zum vollen Selbstbewusstsein. - Allein war diese erweiterte Erkenntnis Adams und Evras Glück? ein Glück, um deswillen wir sie beneiden müssen? Kann man es in der Tat einen Fortschritt nennen, wenn man aus der höchsten Seligkeit in einen Zustand gerät, wo man innerlich ein böses Gewissen und ein Schuldbewusstsein in sich trägt und äußerlich ein Leben voll Schmerz und Arbeit führt? Wo wahres Weiterkommen ist, da ist auch allemal Freude, Zufriedenheit, Genüge, Lob und Danksagung: von allen diesen Gefühlen konnte keine einzige in ihrer Seele aufsteigen! Wohl wussten sie nun, was gut und böse war; aber nicht, wie Gott es wusste, das Gute als Etwas, was in Ihm, das Böse als Etwas, was außer ihm war und ist, sondern das Gute als ein Vergangenes und Gehabtes, das Böse als Etwas, das in ihnen wohnte und sie beherrschte; ihr scheinbarer Fortschritt war offenbarer Rückschritt, ihr Gewinn wirklicher Verlust, die Unabhängigkeit, die sie gewonnen zu haben glaubten, ein eitler Schein, die erlangte Freiheit Lug und Trug; sie wussten vom Guten und Bösen, nicht wie Gott, sondern wie Satan darum wusste; und buchstäblich und eigentlich hätte in diesem Sinne Gott daher nicht sagen müssen: Adam ist geworden wie unser Einer, sondern: „Siehe, Adam ist geworden wie Satan“,
Andere Ausleger der Heiligen Schrift haben deshalb die Worte Gottes ironisch, spöttisch deuten wollen; unter Andern auch Luther, der zu ihnen bemerkt: „Dieses ist ein Hohn und sehr harter bitterer Spott“. Nach dieser Auffassung wäre der Sinn: „Ei, Adam, wie prächtig bist du Gott gleich geworben! In der Tat, die Schlange hat wahr geredet, Satan hat dir aufs Beste geraten und du selbst hast sehr weise gehandelt! Du bist mir das rechte, gottgleiche Wesen und weißt nun, wie ich, was gut und böse ist!“ Unter diesen Auslegern haben Einige den Spott dadurch etwas gemildert, dass sie ihn in eine Ironie des Mitleids eingekleidet haben, als hätte Gott sagen wollen: „Ach, der arme Adam! Wie hat er gehofft, mir gleich zu werden! und was ist er nun geworden! Ein schönes Gottgleichsein! Ein herrliches Wissen des Guten und Bösen!“ - Was dünkt euch von dieser Auslegung, Geliebte? Indem sie Luthern für sich hat, hat sie eine große Autorität auf ihrer Seite, einen Gottesgelehrten erster Größe. Indes, alle Achtung vor Luthern, - auch er ist ein Mensch und konnte als solcher irren. Es ist nicht zu leugnen, die Heilige Schrift legt nicht selten auch Gott einen Spott in den Mund, oder ins Herz. So wenn es im zweiten Psalm heißt: „Der im Himmel wohnt lacht ihrer und der Herr spottet ihrer“. So Sprüche 1,24-26.: „Weil ich denn rufe und ihr weigert euch, ich recke meine Hand aus und Niemand achtet darauf, und lasst fahren allen meinen Rat und wollt meiner Strafe nicht, so will ich auch lachen in eurem Unfall und eurer spotten, wenn da kommt, das ihr fürchtet“. Allein in allen diesen Stellen bezieht sich der Spott des Herrn nur auf die Unbußfertigen, die Gottlosen, die Empörer gegen Gottes Ordnung, die verstockten und boshaften Sünder und bezeichnet da die Entziehung der göttlichen Gnade; aber niemals äußert er sich gegen Unglückliche und Leidende, am wenigsten, wenn Gott schon angefangen hat, wie hier, sich der Gefallenen zu erbarmen, ihnen Trost- und Verheißungsworte zuzusprechen, ihnen das Rettungsmittel anzubieten, sie zu kleiden und wieder zu Gnaden anzunehmen. Ironie, Schadenfreude und Spott über eine unglückliche und verführte Seele hegt wohl der Satan, nicht aber Gott; und wenn ein Mensch eines Unglücklichen, sei er es durch eigene oder fremde Schuld geworden, spottet, und sagt: „Wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen“, der handelt satanisch und verhöhnt seinen Schöpfer. Gott aber kann sich selbst nicht verhöhnen, es ist nicht möglich.
Andere Ausleger, welche mit beiden angeführten Erklärungen sich nicht einverstanden erklären konnten, haben sich dadurch zu helfen gesucht, dass sie die Worte anders übersetzten; die Einen: „Adam ist gewesen wie unser Einer, er hatte das göttliche Ebenbild gehabt, nun hat er es verloren“; die Andern: „Adam hat werden wollen wie unser Einer“. Dann ist die Schwierigkeit allerdings viel geringer; allein abgesehen davon, dass es immer noch fraglich ist, ob das Wort im hebräischen Urtext diese Erklärung zulässt, abgesehen davon, dass dann die Gotteserklärung etwas ganz Mattes, Überflüssiges, sich von selbst Verstehendes enthielte, was sonst in den übrigen bedeutungsvollen Worten unseres Textkapitels nie vorkommt, so ist jedenfalls gewiss: man ist zu diesen Erklärungen nur als Verzweiflung gekommen, weil die gewöhnlichen Auslegungen den Zusammenhang des Ganzen verlegten und nicht befriedigten.
Sollte es denn keine Deutung geben, welche die Worte buchstäblich nimmt wie sie sind und den Zusammenhang mit dem Vorhergehenden wie den fortlaufenden Faden der Erzählung festhält, ohne ihn abzubrechen und zu zerreißen? Sollten die geheimnisvollen Worte: „Adam ist geworden wie unser Einer“, uns nicht einen Fingerzeig geben, auf den wir zu achten haben, und der uns aus dem Labyrinth dieser Gottesworte heraus führt? Am sechsten Schöpfungstag hieß es: „Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das und gleich sei“; gleichermaßen heißt es hier: „Siehe, Adam ist geworden wie unser Einer“. Wie? Offenbart sich in beiden Stellen nicht eine Spur der göttlichen Dreieinigkeit, ein Licht über ein göttliches Wesen, das mehr als einfach ist? „Adam ist geworden wie unser Einer“; Einer aber in der heiligen Dreieinigkeit ist der Sohn Gottes. Siehe, würden dann die Worte lauten, der gefallene, aber wiederum begnadigte und auf Christum verwiesene und durch Christum gerechtfertigte Mensch ist gleich dem Sohn Gottes! Unmittelbar vorher war die Rede gewesen vom Schlangentreter und seinem Erlösungswerk durch Leiden und Sterben; unmittelbar vorher hatte Gott den Menschen die Röcke von den Fellen des Lammes angezogen, das Er als Sinnbild des Opfertodes Christi hatte töten lassen, und hatte sie in die zukünftige vollkommene Gerechtigkeit Christi gekleidet, wie herrlich passt nach all diesem Vorangegangenen, nach der Weissagung, dem Opfer und der Zurechnung desselben, nun der Ausruf Gottes: „Siehe, Adam ist geworden wie unser Einer“! Gott sieht Adam ja nun nicht mehr an in seinen Sünden und Strafen, sondern in Seinem Sohn, dem Heiligen und Geliebten, und hat Sein göttliches Wohlgefallen an ihm in dieser neuen, ewig gültigen Bekleidung. Dann war allerdings ein Fortschritt eingetreten; aber nicht aus dem Stand der Unschuld in den Stand der Schuld, sondern aus dem Stand der Schuld und des Abfalls in den Stand der Erlösung und der Wiederannahme von Seiten Gottes. -
Und was enthalten dann die folgenden Worte: „Und weiß, was gut und böse ist“? In diesem Zusammenhang können sie dann nur heißen: Adam weiß, vom heiligen Geist erleuchtet, mit den geöffneten Glaubensaugen, worauf es jetzt für ihn ankommt, was er zu tun und zu lassen hat, was das wahrhaft Gute ist, das er zu ergreifen und auszuüben, das wahrhaft Böse, das er zu hassen und zu fliehen hat; seine eigene menschliche Weisheit ist jetzt göttliche Weisheit geworden; Christus ist seine Gerechtigkeit, Christus ist seine Weisheit; aber weil der gesegnete Weibessame, der Sohn Gottes, seine Weisheit ist, so weiß er, was er zu tun und zu meiden hat, um durch Christum wiederzugewinnen, was er durch seine Sünde verloren hatte, nämlich: der Sünde zu sterben und der Gerechtigkeit zu leben.
Noch immer gilt es von allen begnadigten Sündern, dass sie in Christo werden wie Christus, Kinder Gottes, Auserwählte und Heilige, Angenehme und Geliebte, Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen, Priester und Könige in Seinem Reich, unaussprechlich teure Gegenstände des göttlichen Wohlgefallen, an denen nichts Verdammliches mehr ist in Christo Jesu, sondern die da sind abgewaschen, geheiligt, gereinigt durch den Namen des Herrn Jesu und durch den Geist unseres Gottes. Was Er war in dieser Welt, das sind sie nun auch durch den Glauben an Ihn; Er heilig, sie auch; Er unschuldig, sie auch; Er von den Sündern abgesondert, sie auch; Er höher denn der Himmel ist, sie auch; Er selig, sie auch; Er mit der Stimme ausgezeichnet bei Seiner Taufe: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“, sie auch; und wenn sie dann aus eigener Erfahrung inne werden und erkennen Sünde und Gnade, Buße und Glauben, Abfall und Wiederbringung, Verlust und Gewinn des ewigen Lebens, dann wissen sie auch im höchsten Sinne des Worts, was gut und böse ist.
Nun aber, nachdem Gott der Herr Seine staunende Freude und Bewunderung des Menschen in Christo an den Tag gelegt hat, geht Er zur Vollziehung der angedrohten Strafe über und begründet sie mit den Worten: Nun aber, dass er nicht austrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich. Außer dem Baum der Erkenntnis stand nämlich noch inmitten des Gartens Eden der Baum des Leben. Dieser Baum hatte eine das Naturleben des Menschen immer neu verjüngende und allmählig verklärende Kraft. Hätten die Menschen im Stand der Unschuld allein von ihm gegessen, so wären sie allmählig immer geistiger und leiblicher entwickelt und für den seligen verklärten Zustand im Himmel vorbereitet worden. Wäre aber der gefallene Adam im Paradies geblieben und hätte auch von diesem Lebensbaum gegessen, so hätte sein Leib damit eine irdische Unsterblichkeit erlangt und wäre, mit den nachteiligen Einflüssen der Sünde behaftet, je länger, je mehr, ein wahrer Höllenleib geworden; so wäre in seiner Seele die Sünde gleichermaßen verewigt und jede Möglichkeit ausgeschlossen worden, jemals von ihrer Macht und Vergiftung wieder befreit und erlöst zu werden, und niemals eine gewaltsame Trennung von Geist, Seele und Leib, wie sie zum Heil der Menschen durch den Tod von Gott beabsichtigt war, eingetreten; so wäre in und mit der Sünde das zeitliche und ewige Verderben den Menschen ein unwandelbares, unabänderliches, entsetzliches Los geworden; mit andern Worten, wäre der gefallene Mensch im Paradies geblieben, unaufhörlich an Leib und Seele gestärkt und genährt durch den Genuss der paradiesischen Pflanzenwelt, insbesondere des Lebensbaumes, er wäre allmählig zum Satan gereift und jeder Weg zur Wiederherstellung des Bundes mit Gott wäre ihm verschlossen gewesen. Es war daher allerdings eine wohlverdiente Strafe, dass Gott die Menschen aus dem Paradies heraustrieb, aber zugleich eine väterliche Erziehung und Gnade zu ihrem Heil und zu ihrer Rettung. Er hätte sie nicht lieb gehabt, wenn Er sie mit der Sünde im Herzen gelassen hätte, wo sie waren. Gerade ihre Vertreibung bewies, dass Er keinen Gefallen hat am Tod des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe, dass Seine Gedanken und Wege zwar oft anders sind, als der Menschen Gedanken und Wege, aber immer Gedanken der Liebe und des Friedens, und nicht des Leides. Es sollte von Adam fortan gelten, was von uns Allen gilt: „Alle Züchtigung, wenn sie da ist, dünkt sie uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; aber danach wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die darin geübt sind“; und: „Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet, denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, welche Gott bereitet hat denen, die Ihn lieben“.
Unser Text fährt fort: „Da ließ ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er das Feld baute, davon er genommen ist“. Statt des Nachsatzes der Worte folgt der unmittelbare Nachlass der Tat. Er ließ ihn aus dem Garten Eden, das heißt, Er schickte ihn fort und sprach zu ihm: Hinweg von hier! Jetzt kann deines Bleibens hier nicht mehr sein; das Paradies mit seinen Lebensbäumen und Früchten gehört nicht für den gefallenen Menschen; nachdem du einmal mir den Gehorsam aufgekündigt hast, würde ein längerer Aufenthalt im Garten der Wonne dich nur im Ungehorsam und damit im Verberben befestigen. Darum hinaus, dass du draußen das Feld bebaust, davon du genommen bist, und im Zustand der Prüfung und eines mühseligen arbeitsvollen Lebens im Schweiß deines Angesichts, unter mancherlei Beschwerden und Anstrengungen, für ein anderes, himmlisches Paradies zubereitet und geläutert werdest: da draußen ist jetzt dein tränenreicher Aufenthalt, da deine schwere Aufgabe, löse sie besser, als du die erste gelöst hast, und lass dich durch Kreuz und Tätigkeit wieder zu mir zurückführen, nachdem der Genuss und die Freude dich nicht bei mir hat erhalten können. - Und trieb Adam aus, fährt die Erzählung fort. Das setzt voraus, dass Adam zögerte und nicht gern ging, vielleicht einen bittenden und fragenden Blich auf Gott richtete: ob er nicht bleiben dürfe? Das war ja ganz natürlich. Wenn die Eltern zum ungehorsamen, unartigen Kinde sagen: Fort, verlass das Zimmer! erleben wir es nicht auch alle Tage, dass das Kind dann langsam schleichend nach der Tür geht, an der Tür wohl auch noch einen Augenblick still steht und bittend und fragend nach den Eltern zurückblickt? Als Moses an der Grenze des gelobten Landes stand und vom Herrn den Befehl erhielt, sich zum Abschied zu rüsten, versuchte er es nicht auch noch einmal, den Herrn zu bitten: „lass mich gehen und sehen das gute Land jenseits des Jordans, dies gute Gebirge und den Libanon“, und ergab sich erst in Gottes Willen, als der Herr ihm antwortete: „Lass genug sein, und sage mir davon nicht mehr“? (5 Mose 3,24-26.). Zieht es nicht jeden Menschen zurück nach dem verlorenen Paradies? Liegt nicht das Bewusstsein davon und die Sehnsucht danach in allen Herzen? Adam möchte das Paradies nicht verlassen; aber er muss, er wird aus demselben hinausgetrieben. -
Es liegt nun hinter ihm, vor ihm das öde, dornenvolle Land und die dunkle Zukunft mit ihren Drohungen und Befürchtungen. Da blickt er noch einmal - er kanns nicht lassen - mit seinem Weib zurück, kehrt vielleicht wieder um, und will es mit Bitten, mit Tränen, mit Bekenntnissen, mit Gelübden, mit Vorstellungen aller Art erzwingen, ob es ihm doch nicht gelinge. Vergebens, das Paradies, dessen Hüter und Bewahrer er gewesen, wird jetzt vor ihm bewahrt und beschützt; Gott lagerte vor dem Garten Eden den Cherubim mit einem bloßen hauenden Schwert, zu bewahren den Weg zu dem Baum des Lebens. Die Cherubim sind nach der Schrift diejenigen unsichtbaren Geister, die das erschaffene Leben in höchster Stufe besitzen, die höchsten Wesen der Schöpfung, die Gottes Thron umgeben und bei Erregung großer, gewaltiger, auch verderblicher Ereignisse tätig sind. Eine dieser ernsten majestätischen Gestalten erblickt plötzlich Adam mit blitzendem zuckenden Flammenschwert, eine fürchterliche Schranke, die ihm Halt gebot. Adam erschrickt. Dieser Wächter und dieses Schwert lässt sich nicht beseitigen, noch umgehen. Nun ist an keine Rückkehr mehr zu denken, die Pforte zum Paradies ist verschlossen und der Weg versperrt für ihn und für seine Nachkommen auf immer und ewig.
Adam und Eva fingen nun ein neues Leben an, das Auge ihres Geistes, womit sie Gott so klar geschaut hatten, verdunkelt, das Herz von Gott ab- und zur Erde hingelenkt, kalt und ohne rechte Liebe zu Gott, nicht bloß mit dem Tod, sondern auch mit Sünde und Schuld beladen. Aus dem Stand der Unschuld waren sie nun in den Staub der Schuld getreten; wenn sie Gott auch nicht aus dem Garten Eden vertrieben gehabt hätte, sie hätten bei solchem Bewusstsein im Paradies das Paradies nicht mehr gehabt.. Jede Distel und jeder Dorn, der zu ihren Füßen emporschoss, jeder Schweißtropfen, der von ihrer Stirn auf die Erde fiel, jedes Kind, das Eva mit Schmerzen gebar, jeder Seufzer, der von ihren Lippen laut oder verstohlen in die Höhe stieg, mahnte sie an ihren Verlust und an ihren Ungehorsam. Als vollends sie die erste Leiche, den frommen Abel, erschlagen am Boden liegen fanden, hörten sie den Vorwurf und die fürchterliche Anklage in ihren Gewissen: Auch diese Tat ist eine Frucht eure Unglaubens und Ungehorsams im Paradies! Seitdem ist Sünde und Tod auf alle ihre Kinder und Kindeskinder übergegangen; die erste Sünde ist Muster und Mutter aller späteren Sünden geworben und Selbstsucht der Grundton und die Triebfeder aller Handlungen und Leiden der Menschen. Jeder neugeborene Mensch erscheint schon als ein gefallenes Wesen in dieser Welt, und jeder gefallene Mensch ist sein eigener Götze, opfert sich selbst, räuchert sich selbst, denkt an sich selbst, sucht sich selbst, sorgt zuerst für sich und glaubt auf diese Weise glücklich zu werden, wird aber, je mehr er seiner Eigenheit dient, nur um so unglücklicher, kann niemals froh werden, nichts recht genießen und ist sich und Andern eine Last. Wer zählt die Millionen Sünden und Strafen, welche in diesem ersten Vorgang unserer Stammeltern ihren Ursprung nahmen, durch alle Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch, an allen Orten und Enden der Erde? Könnten wir all diesen Fluch und Jammer, au diesen Triumph des Satans und seine grauenvolle Schadenfreude und seine zahllosen Opfer einmal überschauen: das Herz würde uns zerbrechen, wir würden des Todes sterben! Überall das Schwert des Cherubs, wohin wir sehen und hören.
„Aber“, könnte Jemand einwenden, „ist nicht diese lange, allgemeine Strafe zu groß für ein so kleines Vergehen, wie der Genuss einer verbotenen Frucht war?“ Nein, und abermals nein; denn die Sünde Adam's war keine kleine Sünde, sie war im Gegenteil groß, riesengroß; denn sie enthielt schon in ihrem Schoß und Gefolge alle möglichen Arten von Sünden: den Zweifel, den Unglauben, den Hochmut, die böse Lust, den offenbaren Ungehorsam, sie war freche, ungerechtfertigte Empörung wider den besten Vater und Herrn; sie war die Quelle aller Sünden, die sich von nun an, wie von selbst, aus derselben in reißendem Fortschritt entwickelten; sie zog alle Adamskinder in gleiche Gesinnung und gleichen Abfall hinein, und musste den ersten Menschen um so schwerer fallen, je leichter es ihnen gemacht war, nicht zu sündigen, da sie noch keinen angeborenen Hang zum Bösen in ihrer Natur besaßen, wie wir. Auch die Strafe war auf alle Weise gemildert durch Gottes große Gnade und Barmherzigkeit. Nach der Androhung hätten Adam und Eva, an dem Tag, wo sie gesündigt, des Todes sterben müssen; dennoch schenkt ihnen Gott das Leben und verlängert ihre Gnadenzeit, Adam stirbt erst in seinem 930sten Jahre - damit sie sich wieder zum Herrn ihrem Gott bekehren möchten; ja, gibt ihnen die messianische Verheißung und das Opfer als Mittel und Unterpfänder Seiner Gnade, der Möglichkeit ihrer Rettung. Wer kann da noch klagen über Härte der Strafe, wer muss nicht vielmehr preisen und bewundern das unermessliche Erbarmen des Herrn? Zumal du auf die Verheißung im Verlauf der Zeiten die Erfüllung gefolgt ist. Nach vielen Tagen und Nächten ist eine heilige Nacht gekommen und mit ihr Einer, der eher war als die Morgensterne und die Kinder Gottes, und eher als die heiligen Wächter, die Cherubim, an den Pforten des Paradieses. Wie Er erscheint, heißt es nicht wieder: „Adam ist geworden wie unser Einer“, sondern: „Siehe, Einer von uns ist geworden wie Adam“. Den nennt das Neue Testament den zweiten Adam, den neuen Stammvater des neuen Menschengeschlechts. O, welch' ein ganz anderer Adam, Geliebte! Der erste wollte Gott Seine Ehre rauben, der zweite hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern äußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an, ward gleich, wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden; Er erniedrigte Sich selbst und ward gehorsam Seinem Vater bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz. Von Jenem galt: „Wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden“; von Diesem: „Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden“. Jener hat die Sünde und den Fluch in die Welt gebracht, Dieser hat die Sünde getilgt und den Fluch in Segen verwandelt. Jener hat das Paradies verscherzt für sich und seine Kinder, Dieser hat es wieder hergestellt, dass die Kirche über Seine Erscheinung singen kann: „Nun schleußt Er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis, der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr' und Preis“. Durch Jenen ist der Tod in die Welt gekommen und müssen alle seine Kinder nun aus Furcht des Todes im ganzen Leben Knechte sein; Dieser ist das ewige Leben und ruft allen Seinen Jüngern zu: „Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Holz des Lebens, das im Paradies Gottes ist“. Von jenem tragen wir das Bild des irdischen Adam, Dieser will dereinst unseren nichtigen Leib verklären, dass er ähnlich werde Seinem verklärten Leib nach der Wirkung, damit Er kann auch alle Dinge Ihm untertänig machen, und leuchte wie die Sonne in Seines Vaters Reich. Durch Jenen haben wir das Ebenbild Gottes, die Unschuld der Seele, die Unsterblichkeit des Leibes, die Herrschaft über die Welt verloren; durch Diesen können wir alles wiedererlangen und es dahin bringen, dass, wenn es erscheinen wird, was wir sein werden, wir Ihm gleich sein und Ihn sehen werden, wie Er ist. O, Paradies im Glauben hienieden, Paradies im Schauen dort oben, wie sollen wir jemals würdig werden, dich zu besitzen und zu genießen? Jeder Blick zurück auf das verlorene, jeder Blick hinaus auf das wiedergebrachte Paradies ist Sporn und Stachel, zu Dem zu flüchten, der allein Leben und Seligkeit gibt, der allen Schaden wieder gut macht, der Seine Hände nach uns ausgestreckt den ganzen Tag und uns unaufhörlich einlädt, zu Ihm zu kommen und das ewige Leben zu haben.
Wir schließen mit drei Bemerkungen. Zuerst mit einer geschichtlichen. Die Wittenberger baten Luther, er möchte ihnen doch vor seinem Ende dies wichtige Kapitel noch einmal erklären; er sagte es ihnen auch zu, aber der Tod nahm ihn hinweg und führte ihn in das Paradies seines Gottes, nach dem er sich so oft gesehnt hatte, um dort mit verklärterer Zunge Sein Lob zu verkünden ewiglich. Sodann mit einer biblischen. Die heilige Schrift ist nämlich ein abgerundetes und vollendetes Ganze, dass Anfang und Ende, die ersten drei Kapitel im ersten Buch Moses und die drei letzten Kapitel in der Offenbarung Johannes merkwürdig miteinander im Einklang stehen und gleichsam die Anfangs- und Schlussringe der großen Kette bilden, an welcher sich der Ratschluss der göttlichen Liebe fortentwickelt bis zur Vollendung Seines Reiches. Dort der erste Himmel und die durch der Menschen Fall verderbte Erde: hier der neue Himmel und die neue Erde, in denen nach Gottes Verheißung Gerechtigkeit wohnt, eine wahre Hütte Gottes bei den Menschen. Dort der Triumph der Schlange in höllischem Frohlocken: hier ihr Sturz in den Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt ewiglich. Dort ein verlorenes Paradies, hier ein wiederhergestelltes. Dort der erste Adam mit seiner lüsternen Gehilfin, hier der andere Adam mit Seiner heiligen und seligen Braut - Gemeinde. Dort Tod und Elend, hier Auferstehung und Leben und Erlösung von allem Übel. - Endlich mit einer uns Alle persönlich angehenden Bemerkung: Was ist, vom Ende angesehen, und was muss sein die Überschrift des dritten Kapitels im ersten Buche Mosis? Es kann nur eine sein: die Wahrheit, die das Grundthema der ganzen Weltgeschichte, die Angel des Alten und Neuen Testamentes, der Hochpsalm der triumphierenden Kirche im Himmel in alle Ewigkeit ist, die Wahrheit, die uns allezeit in der Demut erhält und dennoch zugleich erhebt und erhöht, die uns täglich Buße predigt und doch zugleich mit Vertrauen und Zuversicht erfüllt, die unser einziger Trost ist beim Blick auf die Vergangenheit, unser siegreicher Mut unter den Kämpfen der Gegenwart und unsere selige Hoffnung für die Ewigkeit, kurz unser Halt und Anker im Leben und im Sterben: „Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden“. Im neuen Vollgenuss dieser Wahrheit lasst uns Alle geloben: „Liebe, die du mich zum Bilde deiner Gottheit hast gemacht, Liebe, die du mich so milde nach dem Fall hast wiederbracht, Liebe, dir ergeb' ich mich, dein zu bleiben ewiglich!“ Und je mehr der alte Adam dann in uns stirbt, je mehr der neue Mensch in uns Gestalt gewinnt, desto mächtiger erfüllt dann nur eine Sehnsucht unsere erneuerte Seele: „Paradies, Paradies, wie ist deine Frucht so süß: unter deinen Lebensbäumen wirds uns sein, als ob wir träumen. Bring' uns, Herr, ins Paradies“. Amen.